Selbstbestimmung

Im Umgang mit demenziell veränderten Menschen ist es wichtig, ihnen Zeit, Raum und eventuell Hilfestellungen zu geben, um eigene Wünsche zu äußern und diese umzusetzen. Sie sind erwachsene Menschen, die über ihr Leben selbst entscheiden möchten, und sie haben ein Recht darauf. Im Instrumentalunterricht sollten daher auch Demenzerkrankte selbstverständlich mit entscheiden dürfen, welche Lieder gespielt werden und welche nicht (siehe “Mitbestimmung bringt Motivation“). Im Beispiel von Sigrid Schmidt zeigte sich aber auch in einem Bereich, der nicht direkt das Geigenspiel betrifft, wie wichtig Selbstbestimmung für sie ist:

Häusliche oder fremde Umgebung?

5. Unterrichtsstunde

Als Frau Schmidt in der 5. Unterrichtsstunde das Lied Hänschen klein erfolgreich beendet hat und dafür Lob und Applaus auch von den unsichtbaren Zuschauern hinter der Kamera bekommt, wirkt sie trotzdem unzufrieden. Ihr scheint es unangenehm zu sein, dass neben Frau Feierabend auch noch ihre Tochter und die Betreuungskraft anwesend sind und ihre Leistungen bewerten. Sie kündigt an, dass sie etwas zu sagen hat, und Frau Feierabend lässt ihr die Zeit, ihre Worte vorzubereiten. Als sie ihren Wunsch äußert, den Unterricht alleine mit ihrer Lehrerin durchzuführen, zeigen alle Beteiligten sofort ihre Bereitschaft, den Wunsch zu akzeptieren. Doch es geht Frau Schmidt nicht um die momentane Situation, sondern um den zukünftigen Verlauf des Unterrichts, und Frau Feierabend hilft ihr, die Worte zu formulieren, und will ihren Wunsch gerne erfüllen. Später konkretisiert Frau Schmidt ihr Bedürfnis noch einmal, indem sie vorsichtig fragt „Wann kann ich denn mal was bei Ihnen machen?“ Vielleicht ist es nach ihrem Empfinden unhöflich, sich selbst bei Frau Feierabend einzuladen, denn ihre Stimme klingt leise und zögerlich. Umso erstaunlicher ist es, dass sie sich nicht zufrieden gibt, sondern beharrlich auch ihren Willen äußert, in einer anderen Umgebung zu musizieren.

Frau Schmidts früherer Satz „Heute war ich so richtig fertig!“ kann mit diesem Wissen auch so interpretiert werden, dass sie sich besonders in dieser Umgebung „so richtig fertig“ fühlt, ausgelaugt, unzufrieden, erschöpft vom Alltag. Als Frau Feierabend sie vertröstet, weil sie zunächst die Unterrichtsstunde beenden will, bricht Frau Schmidt den Kontakt ab, und schaut resigniert auf den Boden. Solche Situationen erlebt sie vielleicht häufiger, dass andere über sie bestimmen und sie wenig Chance hat, ihren Alltag selbst zu bestimmen.

6. Unterrichtsstunde

In der 6. Unterrichtsstunde entlädt sich Frau Schmidts Anspannung nach dem erfolgreichen Spiel in einem erlösten Ausatmen und Lachen. Sie wirkt insgesamt lockerer, lacht mehr und redet scherzhaft mit ihrer Geige. Der Filmausschnitt zeigt die 42. Minute des Unterrichts, und eigentlich wollte Frau Feierabend gewohnheitsmäßig die Stunde beenden, doch Frau Schmidt bewegt sich nicht, sondern schaut ihre Lehrerin erwartungsvoll an, bis diese überrascht fragt: „Möchten Sie noch etwas spielen?“. Als Antwort erhält sie ein sehr bestimmtes „Ja“, und Frau Feierabend geht gerne auf ihren Wunsch ein. Erst nach weiteren Durchgängen gibt sich auch Frau Schmidt zufrieden und äußert den Wunsch, „jede Woche einmal – ein bisschen mehr“ zu spielen. Auch beim Aufbruch zeigt sie sich locker und erfreut und lobt sich selbst „so langsam krieg ich’s ja hin“.

In den folgenden Unterrichtsstunden, die ab diesem Zeitpunkt in der Regel in der Wohnung von Frau Feierabend stattfinden, äußert Frau Schmidt kaum noch, dass sie erschöpft vom Tag ist. Frau Feierabend berichtet, dass ihre Schülerin in der fremden Umgebung und ohne Menschen aus ihrem häuslichen Umfeld befreiter wirkt, mutiger und weniger von belastenden Gedanken abgelenkt. Tatsache ist, dass die Unterrichtsstunden in Frau Feierabends Wohnung jeweils länger dauern, weil Frau Schmidt mehr Ausdauer und Spielfreude zeigt und nicht aufhören möchte.

Zusammenfassung

Wenn wir Anzeichen erkennen, dass ein demenziell veränderter Mensch einen Wunsch oder ein Bedürfnis zum Ausdruck bringen will, müssen wir ihm oder ihr Zeit lassen, die Gedanken in Worte zu fassen, und gegebenenfalls bei der Wortfindung behilflich sein.

Obwohl es für Demenzerkrankte in der häuslichen Umgebung meistens einfacher ist sich zu orientieren, und sie sich dadurch sicherer fühlen, kann es für den Instrumentalunterricht sinnvoller sein, einen bestimmten Raum oder eine fremde Umgebung zu wählen. Der Schüler oder die Schülerin kann dort vielleicht freier agieren, wo die Defizite des Alltags keine Bedeutung haben und nur ihre Potenziale eine Rolle spielen.

Situationen aus dem Geigenunterricht, in denen Sigrid Schmidt von ihrer Lehrerin Anke Feierabend die Gelegenheit zur selbstbestimmten Mitgestaltung des Unterrichts erhält, sind auf der Seite “Mitbestimmung bringt Motivation” zu finden.