Alltagsschwierigkeiten

Die folgenden Filme geben einen Einblick in den Alltag von Sigrid Schmidt, der aufgrund ihrer Demenzerkrankung zunehmend schwieriger wird. Im Instrumentalunterricht sind es vor allem die Situationen zu Beginn und am Ende der Stunde, bei denen sich die Lehrkraft verstärkt auf Verständnisschwierigkeiten und Wartezeiten einstellen muss und dabei stets in herzlicher Atmosphäre die Würde und Selbstbestimmung ihres Schülers oder ihrer Schülerin wahren sollte.

Ankunft – Abschied 20. Unterrichtsstunde

Bei ihrer Ankunft in Frau Feierabends Wohnung grüßt Frau Schmidt den Kameramann lächelnd, legt ihren Geigenkasten auf den Stuhl und öffnet die Verschlüsse. Sie untersucht den Stuhl gegenüber, der bislang immer der Platz ihrer Lehrerin war, setzt sich schließlich darauf und zeigt keine weitere Aktion. Alles dauert sehr lange.

Auf Frau Feierabends Frage nach ihrem Befinden antwortet sie einsilbig, ebenso auf ihre Frage „Wollen wir die Geige auspacken?“ Mit dem Wort „wir“ lädt die Lehrerin sie ein, sich beim Auspacken zu beteiligen, aber Frau Schmidt bleibt auf dem Stuhl sitzen. Dass sie mit dem Oberkörper vor- und zurückwippt, könnte ein Zeichen innerer Unruhe sein – als wolle sie auch etwas tun, weiß aber nicht, was und wie.

Als Frau Feierabend sie auffordert, den Platz wegen der Lichtverhältnisse zu wechseln, muss sie die Aufforderung wiederholen, entweder weil Frau Schmidt es akustisch nicht verstanden hat, oder weil sie es kognitiv nicht verstanden hat – oder beides. Auf jeden Fall brauchen die Vorbereitungen für den Unterricht sehr viel Zeit.

Sobald Frau Schmidt die Geige spielbereit am Hals hält, möchte sie zu spielen beginnen. Zweimal fängt sie leise zu spielen an und bricht wieder ab. Als Frau Feierabend selbst bereit ist und sie auffordert, beginnt Frau Schmidt als Erste zu spielen.

Im Anschluss an den Unterricht fordert Frau Feierabend ihre Schülerin auf, die Geige zum Geigenkasten zu bringen. Die reagiert nicht darauf – entweder weil sie es akustisch nicht gehört hat, oder weil sie die Aufforderung nicht versteht – sondern schaut aus dem Fenster und tippt mit dem Bogen auf den Fußboden. Erst als Frau Feierabend sie berührt und ihr während des Gesprächs in die Augen schaut, macht sie Anstalten zu folgen. Sie stellt die Geige auf den Boden und setzt sich auf den anderen Stuhl. Spätestens als Frau Schmidt auf Frau Feierabends Frage „Soll ich die Geige einpacken?“ antwortet „Ne, muss nicht“, liegt der Gedanke nahe, dass Frau Schmidt vielleicht einfach nicht will, dass der Geigenunterricht beendet ist. Ihre Antworten und Handlungen wirken unpassend, aber vielleicht sind sie Ausdruck ihres Unwillens statt Nichtverstehens. Frau Feierabend reagiert nicht kritisierend, sondern validierend und versucht, die Absichten ihrer Schülerin zu ergründen und zu akzeptieren. Schließlich steht Frau Schmidt auf und zeigt mit dem Bogen auf Noten, die auf dem Klavier stehen. Sie summt  das Schlusslied des Unterrichts, Der Mond ist aufgegangen, obwohl es sich auf dem Klavier um andere Noten handelt. Auch dies ist ein Indiz dafür, dass Frau Schmidt am liebsten in der Unterrichtssituation bleiben möchte. Frau Feierabend zeigt das Positive und Richtige in Frau Schmidts Verhalten auf und gibt ihr das Gefühl, dass ihre Aussagen und Handlungen in Ordnung sind.

Die Stimmung bleibt die ganze Zeit herzlich und wertschätzend. Zum Schluss wünscht Frau Feierabend ihrer Schülerin eine schöne Woche, und Frau Schmidt antwortet: „Ich mir auch“. Dieser Satz scheint zunächst unpassend und auch witzig, er könnte aber für ihre Situation genau richtig und sinnig sein.

Ankunft – Abschied 21. Unterrichtsstunde

Fröhlich und beschwingt geht Frau Schmidt zur 21. Unterrichtsstunde in das Haus ihrer Geigenlehrerin. Sie lächelt und scherzt, ihre Augen sind weit geöffnet, als sei sie voller Vorfreude. Dieses Mal setzt sie sich sofort auf ihren gewohnten Platz und öffnet selbstständig ihren Geigenkoffer. „Ich bin immer zu doof“ bemerkt sie und hat Schwierigkeiten, passende Worte zu finden. Frau Feierabend gibt ihr die Sicherheit, dass sie alles richtig macht und dass alles in Ordnung ist. Daraufhin macht Frau Schmidt Scherze, die ihre Lehrerin gerne teilt.

Sobald sie die Geige spielbereit hält, will sie selbstständig zu spielen beginnen und testet jede Saite kurz, wie viele geübte Violinisten. Als auch Frau Feierabend bereit ist, agiert sie wie das Spiegelbild ihrer Lehrerin.

Nach Ende des Unterrichts lehnt Frau Schmidt den Bogen ans Klavier, eine Handlung, die unpassend und unnötig ist. Frau Feierabend kritisiert sie dafür nicht, sondern lobt ihre Fähigkeit, den Bogen in Balance zu bringen. Frau Schmidt scheint nicht so recht zu wissen, was ihre Lehrerin damit meint und überspielt die Situation mit „kann ja sein“.

Als Frau Feierabend den Geigenkasten für sie öffnet, steht Frau Schmidt kurz auf und sagt „Meine Güte war das anstrengend“, klingt dabei aber zufrieden erschöpft. Sie scheint nicht zu wissen, was von ihr erwartet wird, sondern schmunzelt und richtet ihre Kleidung. Frau Feierabend kommentiert genau, was zu tun ist und was Frau Schmidt machen soll. Auf die Frage nach dem Bogen weiß Frau Schmidt nicht mehr, dass sie ihn ans Klavier gelehnt hat. Für jede Etappe des Vorgangs „einpacken, verabschieden und hinausgehen“ benötigt sie einzelne Erklärungen und Aufforderungen, und Frau Feierabend hat die Geduld und nimmt sich die Zeit dafür. Ihr Händedruck ist herzlich, und Frau Schmidt sucht ihre Nähe und betont, dass sie es gut machen will.

Im Flur holt Frau Schmidt einen kleinen Tannenzapfen aus der Jackentasche und gibt ihn Frau Feierabend zum Abschied. Obwohl auch diese Aktion und das Geschenk unpassend sind, nimmt Frau Feierabend es wie selbstverständlich dankend an. Vielleicht ist diese Handlung ein typischer Reflex in der Generation von Frau Schmidt: Die gute Leistung eines jüngeren Menschen wird von dem älteren mit einem kleinen „Leckerli“ belohnt.

Gemeinsam mit ihrer Tochter geht Frau Schmidt leichtfüßig und beschwingt winkend zum Auto.

Zusammenfassung

Wer die Filme aus dem Geigenunterricht mit Frau Schmidt gesehen hat, ist vielleicht erstaunt zu sehen, wie schwer ihr der Alltag fällt. Aufgrund ihrer Demenzerkrankung hat sie Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden, sie weiß oft nicht, was sie als nächstes tun muss, und sucht nach passenden Worten. Aber sobald Frau Schmidt die Geige in der Hand hält, werden ihre Bewegungen sicher und zielgerichtet: Sie weiß, dass sie mit dem Bogen über die Saiten streichen und mit den Fingern der linken Hand die Saiten niederdrücken muss. Dieses kleine Wunder ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass ihr Körpergedächtnis die Bewegungen zur Musik gespeichert hat und entsprechend abrufen kann. Bei Alltagshandlungen ist das oft nicht der Fall.

Wer demenziell veränderte Menschen unterrichtet, muss für die Ankunfts- und Abschiedssituationen mehr Zeit einplanen als bei gesunden Schülerinnen und Schülern. Aufforderungen müssen mehrmals wiederholt werden und können mit führenden Gesten und Berührungen verbunden werden. Besonders wichtig ist es, möglichst Blickkontakt im Gespräch zu halten. Es dauert lange, bis Informationen im Gehirn der Betroffenen verarbeitet werden, und oft wissen sie nicht, was zu tun ist. Wenn aber die Lehrkraft eine validierende und positive Atmosphäre beibehalten kann, fühlt sie der Schüler oder die Schülerin angenommen und wertgeschätzt und traut sich eher, in Aktion zu treten und zu sprechen. Scheinbar unpassende Handlungen und Aussagen können dabei durchaus einen hintergründigen Sinn aufweisen. (siehe: Sinnige Äußerungen)