Sinnige Äußerungen

Sinnige Äußerungen

Als typische Symptome einer Demenzerkrankung gelten der zunehmende Verlust von Gedächtnisleistung und Sprachfähigkeit. Betroffene können sich Inhalte von Gesprächen schwer merken und finden keine oder nicht die passenden Worte. Im frühen Stadium der Krankheit nehmen sie ihre zunehmenden Defizite selbst wahr und leiden darunter. In Gesprächen mit anderen versuchen sie, Wortfindungsstörungen zu überspielen, zum Beispiel mit gängigen Floskeln, die die Fassade eines oberflächlichen Gesprächs aufrechterhalten können. Im weiteren Verlauf der Erkrankung geht die Wahrnehmung des eigenen Krankseins immer mehr verloren, genauso wie die Orientierung in Zeit und Raum. Zum Beispiel scheinen Demenzerkrankte zeitweise frühere Phasen ihres Lebens wieder zu erleben und Räumlichkeiten und Menschen aus früheren Lebensphasen wahrzunehmen. Viele Menschen sprechen in diesem Stadium der Demenz keine vollständigen Sätze mehr, allerdings ist der Ablauf des Sprachverlustes individuell sehr unterschiedlich. Wenn Demenzerkrankte unkonzentriert wirken und sich bei ihren Tätigkeiten von visuellen oder akustischen Ereignissen in ihrer Umwelt ablenken lassen, dann liegt das häufig daran, dass sie diese verwirrenden Wahrnehmungen verstehen wollen, aber nicht können.

Die validierende Haltung im Umgang mit Demenzerkrankten folgt dem Denkansatz, dass Handlungen und Äußerungen, die uns zunächst unpassend und realitätsfern erscheinen, für die Betroffenen durchaus passend sind und Sinn machen – eben weil sie sich vielleicht gerade emotional in einer früheren Phasen ihres Lebens befinden. Auch Worte, die für Außenstehende vielleicht zunächst unpassend erscheinen und häufig auf Wortfindungsstörungen zurückzuführen sind, können mit einer validierenden Haltung anders bewertet werden, nämlich als für die Demenzerkrankten in dieser Situation durchaus sinnhaft. Äußerungen und Handlungen, die dem Kodex unseres sozialen Verhaltens nicht entsprechen, geben mit diesem Denkansatz sogar Hinweise auf das, was die demenziell veränderte Person gerade erlebt und beschäftigt.

Nicht zuletzt könnte der Grund für vordergründig unpassend wirkende Äußerungen und Handlungen auch einfach darin liegen, dass die Person etwas akustisch nicht verstanden hat, weil ihr Gehör beeinträchtigt ist!

In diesem Kapitel zeigen wir eine Vielzahl von kleinen Situationen, die zwar nicht direkt die Methodik des Instrumentalunterrichts demonstrieren, wohl aber die Chancen, die eine validierende Haltung gegenüber der demenzerkrankten Person bietet.

Instrumentallehrkräfte, die demenziell veränderte Menschen unterrichten möchten, werden solche und ähnliche Situationen erleben und können wichtige Einblicke in ihre Schülerin oder ihren Schüler erhalten, wenn sie nach dem Sinnhaften in solchen Situationen suchen.

Bei Sigrid Schmidt sind im Verlauf der Unterrichtsstunden typische Verhaltensweisen zu beobachten, die der Entwicklung einer Demenzerkrankung entsprechen: In den ersten Stunden zeigen ihre Äußerungen zum Beispiel häufig, dass sie ihre zunehmenden geistigen Defizite realisiert und darunter leidet. Im weiteren Verlauf des Unterrichts sind dann mehr und mehr Wortfindungsstörungen zu bemerken sowie Anzeichen, dass sie den Bezug zur Wirklichkeit im Hier und Jetzt verliert und sich emotional in einer früheren Phase ihres Lebens befindet. Die späten Unterrichtsstunden, die nach ihrem Umzug in der stationären Einrichtung „Tönebön am See“ stattfinden, sind geprägt von Ablenkungen, weil Frau Schmidt zum Beispiel die Ereignisse vor dem Fenster beobachtet.

Informationen zum Krankheitsverlauf bei Sigrid Schmidt finden Sie hier

2. Unterrichtsstunde

In dieser frühen gemeinsamen Stunde unterrichtet Anke Feierabend Sigrid Schmidt noch im Stehen, und die Einstellung der einzigen Kamera ist nicht darauf vorbereitet, dass die Schülerin aus dem Bild geht und sich in den Sessel setzt. Trotzdem ist zu sehen, dass Frau Schmidt sich mit dem Bogen gegen die Stirn schlägt. Diese Handlung ist im Verlauf der Unterrichtsstunden immer mal wieder zu beobachten und könnte ein Zeichen dafür sein, dass sie ihrem Denken auf die Sprünge helfen will. Frau Feierabend macht ihrer Schülerin Mut, dass sie ihre Fähigkeiten auf der Geige nach und nach reaktivieren kann: „Das kommt wieder!“ sagt sie, und Frau Schmidt antwortet: „Das kommt auch nur wieder, wenn ich auch wiederkomme“. Diese Wortwahl könnte schlicht auf eine Wortfindungsstörung zurückgeführt werden, aber es könnte auch ein tieferer Sinn darin stecken: Frau Schmidt kommt sich selber nach und nach abhanden und wünscht sich, dass sie sich selbst wiederfindet, so wie sie sich früher gekannt hat. Anke Feierabend lacht über Frau Schmidts Worte wie über ein kluges Wortspiel und gibt ihrer Schülerin damit das Gefühl, dass sie zu einem schlagfertigen und geistvollen Gespräch in der Lage ist. Daraufhin ist sie auch gleich motiviert und beginnt wieder zu spielen.

4. Unterrichtsstunde

Auch in dieser Stunde findet der Unterricht noch im Stehen statt, und der Filmausschnitt zeigt zunächst, wie aufmerksam Frau Schmidt mit den Augen und aus den Augenwinkeln heraus ihre Lehrerin beobachtet und imitiert. Man spürt bereits eine große Nähe zwischen den beiden Frauen, wie sie sich besonders beim gemeinsamen Musizieren entwickeln kann – wenn nämlich die Musiker ohne verbale Absprachen, sondern nur durch konzentriertes Aufeinander-Achten gemeinsam ansetzen und spielen.

Als Sigrid Schmidt beim Absetzen der Geige äußert, dass es ihr an der Schulter weh tue, nimmt Anke Feierabend dies ernst und schaut nach, wobei sie feststellt: „Aber eigentlich sitzt die Geige jetzt richtig.“ Daraufhin äußert ihre Schülerin einen Satz, der scherzhaft klingen soll und doch vielleicht ein wenig Selbsterkenntnis preisgibt: „Vielleicht bin ich nicht richtig“. Sie schaut dabei verschmitzt nach rechts und links und wirkt alles andere als betrübt darüber. Beim Musizieren erfährt sie Anerkennung von ihrer Lehrerin und erlebt offenbar ein starkes Selbstwertgefühl, das es ihr ermöglicht, über ihre sonstigen Defizite humorvoll zu scherzen.

6. Unterrichtsstunde

Dass Sigrid Schmidt „immer selten zuhause“ ist, stimmt nicht, und das weiß auch Anke Feierabend. Frau Schmidt besucht an drei Tagen – später an vier Tagen – pro Woche eine Tagespflege, und manchmal war der Unterricht aus terminlichen Gründen der Lehrerin nur an einem solchen Tag der Woche möglich. Dann fühlte sich Frau Schmidt offenbar zurückversetzt in die Phase ihres Lebens als Lehrerin und in das Gefühl, vor lauter Arbeit nie zuhause sein zu können. Anke Feierabend könnte sie jetzt berichtigen und sagen, dass sie sehr wohl oft zuhause ist, aber das würde Frau Schmidt in dieser Situation vermutlich verunsichern. Auf jeden Fall wäre eine solche Zurechtweisung unnötig, denn es geht um das Gefühl, das Sigrid Schmidt in diesem Moment erlebt, und darauf reagiert Frau Feierabend mit Verständnis und Mitgefühl. Als Frau Schmidt sagt: „Abends hab’ ich Zeit, das ist das Einzige, was ich hab’“, da spürt man, wie wichtig ihr die Geigenstunde mit Anke Feierabend ist.

8. Unterrichtsstunde

Diese Szene aus der 8. Stunde ist wieder ein Beispiel dafür, dass Sigrid Schmidt ihre zunehmenden Defizite spürt und sich vor allem auch traut, sie gegenüber Anke Feierabend offen zu äußern: „Wenn ich nicht so dusselig bin“ sagt sie als beiläufige Floskel, die witzig sein soll, doch Anke Feierabend nimmt die versteckte Selbstabwertung darin ganz ernst und vermittelt ihr ehrlich, dass ihr negatives Selbstbild beim Geigenspiel nicht richtig ist. Frau Schmidt reagiert mit Ironie und schlägt sich nun wieder mit dem Bogen gegen die Stirn, was ein Hinweis dafür sein könnte, dass sie ihr Gedächtnis buchstäblich antreiben will. Und dann sagt sie noch einen für sie wichtigen Satz: „Hauptsache, die Geige bleibt“, den man ergänzen könnte mit „wenn alles andere von mir verschwindet…“.

10. Unterrichtsstunde

Das Beispiel aus dieser Stunde ist ein typisches für Frau Schmidts zunehmende Probleme, die richtigen Worte für ihr Anliegen zu finden. Ihre Handbewegung lässt vermuten, dass die Haltung und das Greifen der Saiten ihr Schmerzen bereiten, aber sie sagt „ich habe keine Sachen dabei“. Frau Feierabend versucht in dieser Situation nicht, Frau Schmidts wirkliches Anliegen zu ergründen, sondern macht deutlich, dass die Schülerin sich nicht unfähig zu fühlen braucht: “Das macht nichts. Wir sind ja hier zum Üben.” Damit gibt sie ihrer Schülerin das Gefühl, in Ordnung zu sein so wie sie ist. Und Klagen über den Greifarm gehören zum Alltag von Violinlehrkräften und ergeben sich in der Regel mit der Zeit.

11. Unterrichtsstunde

Sigrid Schmidt ist in diesen Filmszenen stolz auf ihr erfolgreiches Geigenspiel, und ihr steht die Freude darüber deutlich ins Gesicht geschrieben. Ihre verbalen Äußerungen zeigen in Tonfall und Sprechtempo viel Energie, und man kann sich vorstellen, wie sie als Lehrerin vielleicht ihre Schülerinnen und Schüler gelobt und ermuntert hat weiterzumachen. Dass die Wahl der Worte – „Man kann das ja nicht irgendwo machen“ – nicht ganz passt, ist nicht relevant, gibt aber den Hinweis, dass sie vielleicht das Gefühl hat, nur in dieser Geigenstunde sei eine solche Leistung möglich. „Das muss erst mal wieder kommen“ ist ein durchaus passender Satz, den wir bei Tätigkeiten äußern, die wir lange nicht ausgeübt haben und die Fertigkeit dazu nun reaktivieren. Er beinhaltet auch die Tatsache, dass die Fähigkeit in uns verborgen liegt – zum Beispiel in unserem Körpergedächtnis – und sie nach und nach wieder ans Licht tritt. Das möchte Sigrid Schmidt erreichen, indem sie nach erfolgreichem Spiel gleich weiterspielen will.

14. Unterrichtsstunde

Anke Feierabend spielt in dieser Szene gerade das Lied Kein schöner Land in dieser Zeit vor. Frau Schmidt schaut entspannt auf ihre Lehrerin und bewegt ihren Oberkörper, während sie das Lied mitsummt. Auf der Geige ist das Lied aufgrund der Saitenwechsel für Frau Schmidt eine große Herausforderung, aber sie scheint es sehr zu mögen und will es versuchen. Ihr Satz „Kaputt ist immer kaputt“ erinnert im Tonfall an: „Vielleicht klappt es, vielleicht nicht“. Lehrerin und Schülerin können über dieses Wortspiel schmunzeln, das Frau Schmidt sicher nicht so beabsichtigt hatte, sondern es waren einfach die Worte, die ihr spontan über die Lippen kamen. Aber sie nimmt die Herausforderung entspannt an und will es versuchen.

Später in der Unterrichtsstunde werden die Frauen vom Läuten der Kirchenglocken unterbrochen, und Frau Schmidts Kommentare zeigen deutliche Wortfindungsstörungen, die sie mit Gesten kompensiert, so dass Frau Feierabend sie gut verstehen kann. Sie lobt ihre Schülerin für das zuvor gespielte Lied, und Frau Schmidts Antwort „Ich behalt’ das ja immer nicht“ klingt vielleicht für Menschen im süddeutschen Sprachraum unpassend in der Wahl des Verbs. „Behalten“ ist aber in Norddeutschland ein typisches Synonym für „sich merken“, und Frau Schmidt beschreibt damit sehr offen ihre nachlassenden geistigen Fähigkeiten. Frau Feierabend hingegen macht ihre Schülerin darauf aufmerksam, dass sie ganz offensichtlich dazulerne und dies nur Fall sein könne, wenn sie etwas behalte.

Während des Glockengeläutes wird ihre Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand außerhalb des Bildes gelenkt. Entweder will Frau Schmidt von dem Gespräch über ihre geistigen Fähigkeiten ablenken, oder der Gegenstand hat in ihr spontan eine Erinnerung an ihre Eltern geweckt, denen der Gegenstand offenbar früher gehört hat („Meine Eltern haben das noch gehabt“). Frau Feierabend geht darauf ein und lässt ihr die Zeit, den Gedanken zu Ende zu denken.

15. Unterrichtsstunde

Die zwei typischen Beispiele für Wortfindungsstörungen in dieser Unterrichtsstunde scheinen Sigrid Schmidt selbst zu amüsieren. Gemeinsam mit ihrer Lehrerin lacht sie über ihre eigenen Aussagen, die tatsächlich wie Witze funktionieren, weil ihre Wortwahl überrascht und Raum für neue Assoziationen bietet. Als Anke Feierabend lobt: „Die Übergänge waren ja schon viel besser!“, entgegnet Frau Schmidt: „Ja, bis alles runterfällt.“ Was sie damit sagen möchte, wird nicht klar. Doch es könnte als Metapher gemeint sein, die sagt, dass sie aus dem Kopf/Gedächtnis Inhalte verliert – sie „fallen runter“ und sind dann weg.

Mit „…schon kaum gegessen“ will sie eigentlich ihrer Lehrerin helfen, deren Satz zu beenden. Sie wählt aber vielleicht nicht einfach ein falsches Verb, sondern meint die Redewendung „das ist gegessen“ im Sinne von erledigt – und erledigt ist das Lied Großer Gott, wir loben dich noch lange nicht.

Dass Sigrid Schmidt jeweils mit ihrer Lehrerin über ihre Fehler lachen kann, ist sehr wertvoll und demonstriert die vertrauensvolle und wertschätzende Atmosphäre in den Geigenstunden mit Anke Feierabend.

16. Unterrichtsstunde

Sigrid Schmidt antwortet auf das Lob ihrer Lehrerin mit Worten, die ihr eigenes Erstaunen darüber zum Ausdruck bringen, dass dieses schöne Geigenspiel einfach aus ihr herauskommt. Ihr Nachsatz „… kann ja nicht unterwegs kaputt gehen“ könnte bedeuten: „Während ich dieses Lied spiele, kann es mir nicht abhanden kommen“. Vom Tonfall her klingt es, als würde sie sagen wollen: „Das ist ja wohl selbstverständlich!“ Vieles andere in Frau Schmidts Leben wird durch die Demenzerkrankung jetzt nach und nach zerstört, aber der volle Klang der Saiten bleibt unversehrt.

Im weiteren Verlauf des Unterrichts bricht sie ab, und bekundet: „Ich krieg das ja gar nicht alles hin, weil ich die Sachen auch nicht habe“. Schon in der 10. Stunde hatte sie ähnliche Worte gewählt, nämlich dass sie „keine Sachen dabei“ hat. „Sachen“ scheint ein unbestimmtes Hilfswort zu sein. Gegenüber ihrer Lehrerin gibt sie kleinlaut zu, dass ihr etwas fehlt, was sie braucht, um das jeweilige Lied korrekt spielen zu können. Vielleicht erinnert sie dieses Gefühl an Situationen aus ihrem Leben, in denen sie Materialien für den Unterricht oder für eine andere Arbeit vergaß mitzunehmen. Für den Instrumentalunterricht könnten es nun die Noten sein, die sie meint vergessen zu haben. Nirgendwo in den Unterrichtsstunden wird thematisiert, dass Lehrerin und Schülerin komplett ohne Noten miteinander musizieren, und sie spürt in diesem Moment, dass irgendetwas fehlt, was sie hätte mitbringen müssen. Vielleicht meint sie auch ganz allgemein ihre geistigen Fähigkeiten, die sie nicht präsent hat. Frau Feierabend möchte ihr zu verstehen geben, dass sie so, wie sie ist, in Ordnung ist und dass es nicht schlimm ist, wenn sie Fehler macht: „Das macht doch nichts!“ Aber Frau Schmidt relativiert: Auch wenn das für ihre Lehrerin nichts ausmacht, so hat sie doch selbst an sich den Anspruch, dass sie perfekt vorbereitet sein muss: „Doch, mir macht das was!“ Das akzeptiert Frau Feierabend und zeigt, dass sie es nachfühlen kann: „Das verstehe ich.“ Diese Szene zeigt wieder einmal das innige Vertrauen zwischen den beiden Frauen.

19. Unterrichtsstunde

„Boa, da hat ja mal richtig was gefehlt!“ kommentiert Frau Schmidt erstaunt und stolz ihr fehlerfreies Spiel. Dies ist ein typisches Beispiel für eine Vermischung von zwei Redewendungen, die Frau Schmidt in den Sinn kommen: „Da hat ja nichts mehr gefehlt!“ und „Das hat ja mal richtig gut geklappt!“ – oder ähnlich. Ein solcher Versprecher kann leicht passieren, aber gesunde Menschen würden ihn vermutlich sofort korrigieren und eine der beiden Redewendungen auswählen, während Frau Schmidt dies nicht tut, sondern schmunzelt. Frau Feierabend geht auch nicht weiter darauf ein, sondern lenkt damit ab, das nächste Lied auszuwählen. Auf die Frage ihrer Lehrerin „Ein Männlein steht im Walde?“ setzt Frau Schmidt gleich die Geige an und sagt dabei noch „Weiß ich nicht, keine Ahnung“. Das könnte eine mögliche Antwort sein auf die Frage, ob sie das Lied spielen will, oder ob ein Männlein im Walde steht. Dass Frau Schmidt spontan die Worte „keine Ahnung“ wählt, könnte aber auch ein Hinweis darauf sein, dass sie noch über ihre vorherigen Aussagen nachdenkt und nicht weiß, was ihr daran merkwürdig vorkommt.

Auch im weiteren Verlauf vermischt Frau Schmidt verschiedene Gedanken, die sie zum Ausdruck bringen will: „Man muss ja auch immer erst mal sehen, wo man was sieht“ – „mit den Fingern auf der Geige“ könnte sie damit meinen – und gleichzeitig: „Es ist schwierig, wenn man es nicht richtig sieht!“.

Später in der Stunde fasst Sigrid Schmidt selbst sehr sinnig in Worte, was in ihr vorgeht: „Ich weiß, was ich mein’, ich bin nur noch nicht da“. Diese doppeldeutige Aussage könnte einerseits ihre Finger meinen, die noch nicht an der richtigen Position sind, oder ihr kognitives Denken, das noch nicht die richtigen Worte gefunden hat für das, was sie zum Ausdruck bringen will.

Auch ihre Körperbewegungen vermischen sich hier: Sie streicht mit dem Bogen an der Stelle, wo Frau Feierabend die Fingerposition für die Greifhand gezeigt hat.

20. Unterrichtsstunde

Ab der 20. Stunde mehren sich Situationen, in denen Sigrid Schmidt den Bezug zur Realität zu verlieren scheint. Unsicherheiten und Ängste kommen zum Ausdruck – und können zum Ausdruck kommen, weil Frau Schmidt ihrer Lehrerin vertraut und sich verstanden und aufgehoben fühlt. „Ich hab immer Angst“ sagt sie nach erfolgreichem Spiel, und auf Frau Feierabends mitfühlende Nachfrage antwortet sie: „Vor den Leuten!“ Anke Feierabend folgt ihrer Schülerin in deren Realität und fragt mit ehrlichem Interesse nach, ob sie auch in diesem Raum andere Menschen sieht. Aber sie will mit ihrem fröhlichen Tonfall eine unbeschwerte Atmosphäre aufrecht erhalten und damit klar machen, dass Frau Schmidt bei ihr nicht in Gefahr ist: „Ich glaub’, hier sind Sie sicher“ und „Außerdem bin ich ja dabei, ich pass’ mit auf Sie auf“, woraufhin Frau Schmidt beginnt, das Lied An der Saale hellem Strande zu summen und dabei mit dem Bogen auf den Fußboden zu tippen. Sie entzieht sich damit der Situation, und ihr Summen und leichtes Wiegen beim Bogentippen verhilft ihr selbst dazu, sich geborgen zu fühlen. Die Angst „vor den Leuten“ ist vermutlich Sigrid Schmidts grundsätzliche und berechtigte Angst zu versagen – vor allem vor sich selbst, weil sie immer noch die gesellschaftlichen Normen kennt und ihr Fehlverhalten stets damit abgleicht und bewertet.

Später in der Stunde legt sie erschöpft nach erfolgreichem Spiel die Geige in den Schoß, stöhnt und beginnt, das Instrument ausführlich zu putzen. Frau Feierabend beobachtet ihre Schülerin und versucht zu verstehen, was in ihr vorgeht. Als Frau Schmidt auf die Frage „Müssen wir die mal sauber machen“ antwortet: „Ich sag da nichts zu!“, klingt das zunächst wieder witzig und ist eine Floskel, mit der sie ziemlich sicher nichts falsch machen kann. Frau Schmidt schaut dabei kaum auf und putzt lange weiter. Dies könnte eine Ersatzhandlung sein für ihr Bedürfnis, etwas in Worte zu fassen. Wichtig ist, dass die Lehrerin ihr Zeit gibt, innerlich etwas Wichtiges zu erleben, was sie vielleicht nicht in Worte fassen kann oder will.

21. Unterrichtsstunde

„Ja, wir haben nicht so große Füße!“ sagt Sigrid Schmidt, als Frau Feierabend die Anfangssequenz von Ein Männlein steht im Walde vorspielt. Die Sprachmelodie klingt so, als hätte sie sagen wollen „Ja, Sie können das wunderbar spielen, aber ich nicht!“ Vorher fällt ihr Blick auf die Füße ihrer Lehrerin – vielleicht hat sie auch versehentlich deren Füße berührt, obwohl sie doch gar nicht so groß sind? Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken vermischt Frau Schmidt in ihrer Aussage, so dass ein vermeintlich unpassender Satz herauskommt, der aber sehr wohl sinnhafte und passende Äußerungen enthält. Frau Feierabend akzeptiert dies, ohne dem große Bedeutung beizumessen. Beide können über den Witz lachen, der in der Kombination von Wortwahl und Tonfall steckt.

Im weiteren Verlauf der Unterrichtsstunde lässt sich Frau Schmidt von dem Anblick des Baumes vor dem Fenster ablenken. Dies scheint ein aktiver Vorgang zu sein (Sie wird nicht abgelenkt, sondern sie lässt sich ablenken!), mit dem sie dem Bedürfnis folgt, sich der momentanen Situation zu entziehen. Auch ihre Schulterbewegung erinnert an ein Herauswinden aus einer Beengung. Sie will nicht weiter über ihr Geigenspiel reden, sondern den Baum betrachten, der ihr sehr wichtig erscheint. Obwohl der Baum nichts mit dem Unterricht zu tun hat, geht Anke Feierabend sofort darauf ein und zeigt Verbundenheit mit ihrer Schülerin, denn auch für sie ist der Baum sehr wichtig. Gerade im Unterricht mit demenziell veränderten Personen geht es eben nicht immer um Spieltechnik, sondern auch um das Teilen von Gefühlen und Einstellungen.

Auch eine weitere Szene in dieser Stunde verdeutlicht, dass Sigrid Schmidt manchmal die Wirklichkeit des Geigenunterrichts verlässt und in realitätsfern wirkende Gedanken abschweift. Als sie ihren Arm lockert, fällt ihr Blick auf ein Bild an der Wand, auf dem ein Kreis mit einem Pinselstrich gemalt ist. Es ist ein Beispiel für Kalligraphie, also die Kunst des schönen Schreibens, die Anke Feierabend neben dem Geigenspiel ausübt. Der Anblick des Bildes regt Sigrid Schmidt dazu an, Kreise in die Luft zu malen, als würde der schwungvolle Kreis seine Bewegungsenergie an sie übermitteln. Und tatsächlich liegt darin auch die Kunst der Kalligraphie, dass sie nämlich dem Schreiber wie auch dem Betrachter ein sinnliches Erlebnis verschafft – auch wenn es „nur“ ein gemalter Kreis ist. Genauso wie Musik können demenzerkrankte Menschen also offenbar auch Kunstwerke anregend erleben, die eine sinnliche Erfahrung vermitteln.
Anke Feierabend geht auf die Ablenkung durch das Bild ein und fragt, ob ihre Schülerin zuhause malt. Sie weiß, dass auch eine künstlerische Tätigkeit wie das Malen für Demenzerkrankte eine Möglichkeit sein kann, Gefühle und Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen und Lebenszeit sinnerfüllt zu gestalten. Frau Schmidts Reaktion auf die Frage ist überraschend: „Nee, das geht gar nicht – da sind keine“, sagt sie. Und auf die Frage, ob sie vielleicht auch einmal einen Kreis malen will, antwortet sie abfällig: „Die machen das doch nicht“. Es ist nicht klar, wen sie meint und warum das Malen zuhause nicht möglich ist, aber es klingt darin das Gefühl mit, dass sie sich von anderen Menschen fremdbestimmt fühlt. Sie selbst scheint sich in ihrem Alltag zuhause passiv zu fühlen, während andere agieren. Als Außenstehender könnte man durch diese Aussagen ein falsches Bild von der häuslichen Situation bekommen. Tatsächlich würde die Tochter, mit der Sigrid Schmidt in ihrem Haus wohnt, es ganz sicher unterstützen, wenn die Mutter malen oder anders künstlerisch tätig sein wollte. Frau Schmidt kann also mit „Die machen das doch nicht!“ nicht ihre Tochter meinen, vielleicht jedoch eine Pflegekraft, von der sie sich häufig bevormundet fühlt. Dies alles sind Spekulationen, und vielleicht hat Sigrid Schmidt die Worte ihrer Lehrerin auch nur akustisch falsch verstanden, aber entscheidend ist, dass Anke Feierabend die scheinbar unrealistischen Aussagen ihrer Schülerin akzeptiert, ebenso wie sie die spürbaren Gefühle teilt, die darin zum Ausdruck kommen.

23. Unterrichtsstunde

Als Anke Feierabend in der 23. Stunde das Lied Freude, schöner Götterfunken vorschlägt, summt Frau Schmidt es sofort in flottem Tempo vor, und die Lehrerin zeigt sich mit ihrer scherzhaften Übertreibung „Sie kennen ja alles“ zum wiederholten Mal begeistert von dem musikalischen Erfahrungsschatz ihrer Schülerin. Frau Schmidt muss darüber schmunzeln, relativiert die Übertreibung und akzeptiert das Lob. Sie tippt mit dem Bogen auf den Fußboden, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass sie innerlich unruhig wird, und sie sagt: „Zuhause krieg ich ja auch immer Ärger, wenn ich was sage, das und das möchte ich gerne so…“. Wie schon in dem früheren Beispiel wäre es jetzt für einen externen Beobachter naheliegend zu vermuten, dass Frau Schmidts Mitbewohner nicht sensibel genug mit ihr umgehen, aber das entspricht nicht der Wahrheit. Vielmehr scheint Frau Schmidt entweder eine Situation aus einer anderen Lebensphase mit den derzeitigen Gefühlen zu vermischen, oder sie meint tatsächlich ein für ihr jetziges Leben typisches Gefühl, das sie hat, wenn sie etwas vordergründig Unpassendes sagt. Sie „ärgert“ sich vielleicht über sich selbst, wenn ihr bewusst wird, dass sie etwas vermeintlich Falsches gesagt hat und sich dafür schämt. Es tut ihr sicher gut, dass sie in der vertrauensvollen Atmosphäre des Geigenunterrichts offen aussprechen kann, was sie fühlt, und so ist dieser Exkurs auch schnell für sie erledigt, denn sie stößt mit dem Atem die negativen Gedanken aus und will weiter musizieren. Anke Feierabend akzeptiert diese Szene, ohne nach der genauen Bedeutung zu fragen, und lenkt sie ab, indem sie sie einlädt, das Lied mit ihr zu spielen.

Im Anschluss an das erfolgreich gespielte Lied schaut Sigrid Schmidt überrascht auf die Finger ihrer linken Hand auf den Violinsaiten und spricht über ihre Finger, als würden die ein Eigenleben führen und selbstständig spielen, ohne dass Frau Schmidt sie bewusst steuern kann. Wahrscheinlich hat sie aus dem Körpergedächtnis heraus die richtigen Töne für das Lied gegriffen, und das Körpergedächtnis funktioniert ja tatsächlich ohne bewusste Steuerung und ist auch bei demenziell veränderten Menschen noch lange intakt. „Selbst Schuld!“ ist eine abwertende Distanzierung, die Frau Schmidt hier vermutlich ironisch meint, denn sie lacht dabei. Wie viele Menschen überspielt sie ihre Unsicherheit darüber, ob ihre Aussage richtig und sinnvoll war, indem sie nachträglich durch ihr Lachen den Hinweis gibt, dass es auch ironisch – also gegenteilig – gemeint gewesen sein könnte. Die Anmerkung von Anke Feierabend, dass sie das Lied zum ersten Mal gespielt haben, kommentiert Sigrid Schmidt mit einem überraschten „Ja?“ und „Das ist ja allerhand!“, womit sie selbst Anerkennung für ihre Leistung zeigt.

Anke Feierabend bleibt herzlich und ehrlich und gibt ihrer Schülerin damit die Sicherheit, dass ihre Leistung wirklich gut war. Frau Schmidt bleibt noch in einem Sprachmodus, der zwischen Ernsthaftigkeit und Ironie changiert. Sie spricht undeutlich zu den Wirbeln ihres Instruments: “Und dass sie mir nicht auch abhauen hier.” , womit durchaus ihre Befürchtung gemeint sein könnte, dass auch das Geigespielen ihr eines Tages abhanden kommen könnte. Doch die Gradlinigkeit ihrer Lehrerin scheint ihr Halt zu geben, und sie möchte gerne noch einmal das Lied spielen.

25. Unterrichtsstunde

Auch in den Unterrichtsstunden, die in Sigrid Schmidts neuem Zuhause, dem Demenzdorf „Tönebön am See“, stattfinden, führt Anke Feierabend neue Lieder in den Unterricht ein. Es ist erstaunlich, dass das Geigenspiel offensichtlich noch in weitgehend ähnlicher Unterrichtsform wie bisher stattfinden kann, während der Alltag in Frau Schmidts Haus mit ihrer Tochter aufgrund ihrer demenziellen Veränderungen nicht mehr möglich war. Sigrid Schmidt erkennt Frau Feierabend auch nach langer Zeit wieder und lässt sich nach wie vor positiv auf das gemeinsame Musizieren ein. Auch ein neues Lied zu spielen, findet sie gut!

Als Anke Feierabend den Titel des Liedes ankündigt – Wer hat die schönsten Schäfchen? –, antwortet Sigrid Schmidt sofort mit viel Energie „Oh, ich!“ und wirft mit Schwung den Bogen aufs Bett, um sich mit der Hand an der Nase reiben zu können und anschließend den Bogen wieder aufzunehmen. Anke Feierabend stimmt in diese positive Energie ein, indem sie herzlich lacht. Sie schenkt ihrer ebenfalls lachenden Schülerin Nähe, indem sie sich vorbeugt und ihr Knie streichelt, während sie fragt: „Ja? Haben Sie die schönsten Schäfchen?“ Sigrid Schmidt entgegnet: „Ja, so ungefähr.“

Unabhängig von den Bedeutungen der Worte erinnert die positive Energie, mit der sie „Ich!“ ruft, aber an die Begeisterung, mit der Grundschüler auf eine Frage ihrer Lehrerin antworten, z. B. auf: „Wer will anfangen?“ Frau Schmidts Gefühle haben sie vielleicht in diesem Moment in eine Situation aus ihrer eigenen Schulzeit oder in ihre Zeit als Lehrerin versetzt und sie kann damit typische Reaktionen, die sie damals beschäftigt haben, erneut durchleben.

Da dieses Wiegenlied des Dichters Hoffmann von Fallersleben mit der Melodie von Johann Friedrich Reichardt bei vielen Seniorinnen und Senioren beliebt und bekannt ist, soll es an dieser Stelle noch einmal Gelegenheit geben zu zeigen, wie Anke Feierabend mit Sigrid Schmidt auch bei fortgeschrittener Demenz zusammen Geige spielen kann:

Wer hat die schönsten Schäfchen

Die Lehrerin nimmt sich die Zeit, das Lied bis zur Hälfte vorzusingen, obwohl Frau Schmidt bereits gleich nach dem gemeinsamen Gelächter mit Freude die Geige angesetzt hat und losspielen wollte. Aber es ist Anke Feierabend wichtig, dass ihre Schülerin wirklich eine umfassende Klangvorstellung von dem Lied hat, und das merkt sie zum Beispiel daran, dass Frau Schmidt schließlich mitsummt und den Oberkörper passend zum Schlaflied wiegt. Die ersten Töne des Liedes will Frau Schmidt wie immer synchron mit ihrer Lehrerin mitspielen, aber trotz deren Abwarten findet sie die Töne nicht. Frau Feierabend erklärt ihr mit Worten die zwei möglichen Spieltechniken und vermittelt dies auch klanglich durch ihr Vorspiel. Es gelingt Frau Schmidt auch in ganz langsamem Tempo, das erste Quintintervall und die nachfolgenden Tonschritte auf der Geige zu finden, aber da sie den Ton a’ mit dem Ringfinger gespielt hat, muss sie für die tiefen Töne die Lage wechseln und kann nicht sauber intonieren. Sie bemerkt ihre Schwierigkeiten selbst, bricht ab und kommentiert ihr Spiel mit der typisch norddeutschen Redewendung „Das ist alles Tüddelkram“. Damit ist in der Regel „Kleinkram“ gemeint, also hat Frau Schmidt vielleicht das Gefühl, dass sie Ton für Ton suchen muss und sich keine Melodie entwickelt. Frau Feierabend wechselt sofort in eine altbewährte Methode, nämlich die Tonleiter bis zur Quinte als Vorübung rein intoniert zu spielen, damit die Finger in der richtigen Position für das Lied stehen. Zwar scheint Frau Schmidt trotz angestrengtem Zuhören die erklärenden Worte nicht recht zu verstehen, doch sie kann jetzt den Anfang des Liedes finden, indem sie die Bewegungen ihrer Lehrerin nachahmt und das Klangergebnis mit ihrer Klangvorstellung abgleicht.

Als im weiteren Verlauf wiederholt Schwierigkeiten für Frau Schmidt auftreten, fragt Anke Feierabend zur Sicherheit noch einmal nach, ob sie das Lied kennt. In ihrer Antwort vermischen sie erneut mehrere Gedanken und dazu passende Kommentare:

 „Ne, wenn ich’s gesehen hab nicht, aber…“ Vielleicht hat sie ihre Greiffinger nicht richtig gesehen, oder meint das Lied anhand des Titels nicht zu erkennen. Diese typischen Wortfindungsstörungen überspielt sie aber im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie beginnt auf der Geige zu spielen. Und tatsächlich gelingen nun das Anfangsintervall auf den leeren Saiten und auch die nachfolgenden Tonschritte gemeinsam mit Frau Feierabend. Von dieser Szene existiert eine Detailaufnahme ihrer Greiffinger, die zeigt, wie Sigrid Schmidt den höchsten Ton h’ mit gestrecktem kleinen Finger in der 2. Lage statt mit einem Saitenwechsel realisiert. Es ist erstaunlich, wie sauber sie diese Töne intoniert und wie schnell sie Fehler in der Intonation selbstständig korrigiert. In Szenen wie dieser wäre für einen Außenstehenden nicht zu erkennen, dass die Dame an Demenz im fortgeschrittenen Stadium erkrankt ist, denn beim Musizieren scheinen Körper und Geist im Einklang.
„Das hab ich noch nie gemacht!“ staunt Sigrid Schmidt über ihr eigenes gelungenes Spiel und lacht erleichtert, während ihre Lehrerin wie beim Konzertbeifall „Bravo!“ ruft und „Das war richtig klasse!“ hinzufügt. Frau Schmidt scheint innerlich bewegt zu sein, strahlt und antwortet: „Ja, ich find’s gut!“, während sie mit dem Geigenbogen auf den Boden tippt. Ihre Aussage „Hauptsache es kommt keiner… einer, der es ganz anders gemacht hat“ lässt vermuten, dass sie nicht sich selbst, sondern vielleicht eine andere Person oder eine Kraft spürt, die für ihr Geigenspiel verantwortlich ist. Auf jeden Fall ist ihre Freude unverkennbar, und sie ist hoch motiviert, das Lied noch mehrmals zu spielen. Es folgten in dieser Unterrichtsstunde noch drei weitere Durchgänge des Liedes, von denen das Filmbeispiel nur noch einen am Schluss zeigt. Darin tippt Sigrid Schmidt mit dem Bogen an ihre Stirn, als wolle sie ihrem Denken von außen auf die Sprünge helfen und lächelt noch einmal glücklich. Sie kann das Lob ihrer Lehrerin uneingeschränkt annehmen und freut sich gemeinsam mit ihr.

Zusammenfassung:

Wenn wir Menschen uns versprechen, lohnt es sich oft, genau hinzuhören, denn manchmal ist in dieser vermeintlichen Fehlleistung eine tiefere Wahrheit verborgen. Der so genannte „Freudsche Versprecher“ gehört schon fast zum Allgemeinwissen und meint, dass in einem solchen Fehler eine Nachricht aus unserem Unterbewusstsein ausgesprochen wird. Bei demenziell veränderten Menschen ist das nicht anders, und so können zunehmende Wortfindungsstörungen und vermeintlich falsche Worte als Schlüssel dazu dienen, Demenzerkrankte besser zu verstehen. Bei Sigrid Schmidt offenbart sich dabei oft auch ihre kluge und schlagfertige Persönlichkeit.

Überraschende Äußerungen sind vielleicht schlicht die Folge von akustischen Missverständnissen, sie sind aber manchmal auch ein Hinweis darauf, dass die demenziell veränderte Person gerade eine andere Wirklichkeit aus früheren Lebensphasen erlebt oder dass sie Gesehenes oder Gehörtes zu verstehen versucht und Assoziationen entwickelt.

Aussagen von Demenzerkrankten über Angehörige, Pflege- und Betreuungskräfte dürfen wir nicht vorschnell als wahr annehmen und bewerten, weil die darin zum Ausdruck gebrachten Gefühle auch zu einer anderen Lebensphase oder zu einer bestimmten Angst gehören könnten.