Abschlussritual

Der Mond ist aufgegangen

11. Unterrichtsstunde

In der 11. Unterrichtsstunde beginnt Anke Feierabend damit, ein Abschlussritual für ihren Unterricht mit Frau Schmidt zu etablieren. Sie gibt zunächst ihrer Schülerin die Gelegenheit, einen eigenen Vorschlag für ein Schlusslied zu machen, denn das ist in der Regel die beste Motivation für einen Schüler oder eine Schülerin. Aufgrund der demenziellen Veränderung fallen Frau Schmidt aber keine Titel ein, und so wählt die Lehrerin intuitiv ein Abendlied, das bei vielen älteren Erwachsenen bekannt und beliebt ist: Der Mond ist aufgegangen.

Frau Schmidt hat zunächst anhand des Titels keine Klangvorstellung von dem Lied, spielt aber wie gewohnt mit ihrer Lehrerin mit, allerdings eine Tonleiter. Erst durch das deutliche Vorspiel von Frau Feierabend erkennt sie das Lied. Die verbale Anweisung konnte sie nicht umsetzen, wohl aber die klingende, und so steigt sie im erneuten Durchgang korrekt in das Lied ein.

Anke Feierabend hatte das Lied zunächst mit einem Aufstrich begonnen, weil sich das für den unbetonten Auftakt anbietet. Als Sigrid Schmidt mitspielt und wie üblich jeden Anfangston mit einem Abstrich beginnt, gleicht die Lehrerin mehrmals ihre Strichrichtung unmerklich an, damit sie gemeinsam quasi spiegelbildlich spielen (siehe auch: Validierende Haltung beim Abstrich/Aufstrich).

Der Mond ist aufgegangen bietet zwar im Violinunterricht einige Schwierigkeiten, weil es mehrere Tonsprünge enthält, für die teilweise ein Saitenwechsel sinnvoll ist. Allerdings hat dieses Lied den großen Vorteil, dass die letzten drei Takte recht leicht auf einer Saite realisierbar sind. Das bietet gerade für den Unterricht mit Demenzerkrankten die Chance, dass der Schüler oder die Schülerin das Lied mit einem Erfolgserlebnis beendet und die Schwierigkeiten, die im Verlauf des Liedes aufgetreten waren, vielleicht schon vergessen sind.

Der Mond ist aufgegangen

Bei Frau Schmidt sind nach Ende des Liedes die Erinnerungen an die Schwierigkeiten noch präsent, aber sie ist motiviert, das Lied gleich noch einmal zu spielen – vielleicht, weil sie besonders den Schluss aus dem Körpergedächtnis heraus problemlos spielen kann und das Lied in ihr positive Gefühle auslöst. Sie nimmt das Lob ihrer Lehrerin an, bedankt sich und atmet tief durch.

Mit validierender Haltung zum positiven Ende

12. Unterrichtsstunde

Als Anke Feierabend in der 12. Unterrichtsstunde vorschlägt, wieder Der Mond ist aufgegangen zum Abschluss zu spielen, ist Frau Schmidt sofort einverstanden und bewegt ihre Geige, als wolle sie sofort anfangen. Sie hält sich aber zurück, bis Frau Feierabend den Anfangston bestimmt hat, und setzt dann spiegelbildlich zur Lehrerin an.

Während Frau Feierabend mit dem Lied beginnt, spielt Frau Schmidt zunächst eine Tonleiter bis zur Quinte, entweder weil sie noch keine Klangvorstellung von dem Lied hat, oder weil sie es von anderen Liedern gewohnt ist, dass eine Tonleiterübung vorangestellt wird. Frau Feierabend reagiert validierend, indem sie die Vorübung akzeptiert, als sei es so gewollt. Dann betont sie mit Worten, dass sie das Lied Der Mond ist aufgegangen spielen. Diese verbale Anweisung kann Frau Schmidt nun sofort umsetzen und beginnt korrekt zu spielen. Frau Feierabend hatte wieder beim ersten Mal den Auftakt des Liedes mit dem Aufstrich begonnen, gleicht sich jetzt aber ihrer Schülerin an und beginnt mit dem Abstrich, ohne darüber zu sprechen, dass der Aufstrich für diesen Auftakt passender wäre. So können beide im spiegelbildlichen Spiel bleiben (siehe auch: Validierende Haltung beim Abstrich/Aufstrich).

Als Frau Schmidt einen Ton nicht findet und ihr Suchen mit einem Glissando quittiert, lässt Frau Feierabend sie erneut von Beginn spielen. Sie verzichtet darauf, die Umsetzung des Terzsprungs d – fis mit Worten zu erklären, und tatsächlich spielt ihn Frau Schmidt in der Wiederholung aus ihrem Körpergedächtnis heraus ohne Schwierigkeiten. Der weitere Verlauf bereitet Frau Schmidt dann wieder viele Probleme, Frau Feierabend hält einzelne Töne lange an, bis Frau Schmidt sie gefunden hat, und mehrmals gleicht Frau Feierabend ihre Strichrichtung an die ihrer Schülerin an. Trotz der Herausforderung gibt Frau Schmidt nicht auf, korrigiert ihre Intonation, probiert Lagen- und Saitenwechsel und endet schließlich korrekt mit den einfachen letzten drei Takten, die zu einem befriedigenden Schluss führen. Ihre Mimik zeigt, dass sie die Schwierigkeiten nicht gleich vergessen hat, aber sie scheint Freude an den Anforderungen des Liedes zu haben und ist gleich wieder spielbereit, als Frau Feierabend vorschlägt, das Lied noch einmal zu spielen.

Als Sigrid Schmidt im nächsten Durchgang von Der Mond ist aufgegangen wieder vergeblich den höchsten Ton des Liedes sucht, bietet Frau Feierabend ihr vier Formen der Vermittlung an: Sie beschreibt mit Worten, dass der Ton auf der A-Saite mit dem ersten Finger gespielt werden kann, zeigt ihr Griffbrett und ihre Körperbewegung bei dieser Handlung und spielt die Töne dieser charakteristischen Stelle im Lied. Da Frau Schmidt die Anweisungen immer noch nicht umsetzt, bewegt Frau Feierabend die Finger ihrer Schülerin in die richtige Position auf der Geige. Frau Schmidt bricht nun ab und zeigt sich etwas überfordert, aber immer noch positiv gestimmt, und die Lehrerin unterstützt diese Stimmung, indem sie in unbeschwertem Tonfall erklärt, dass es sich bei ihrer Spielanweisung um einen Saitenwechsel handelt. Anstatt aber an dieser Stelle auf die Einübung des Saitenwechsels zu beharren, startet Frau Feierabend mit ihrer Schülerin das Lied von vorne. Das hat den Vorteil, dass Frau Schmidt wieder die ersten, zufriedenstellenden Töne des Liedes erleben kann und vielleicht zunehmend aus ihrem Körpergedächtnis heraus die für sie passende Spieltechnik ausführt. Und tatsächlich gelingt Frau Schmidt die Passage mit dem höchsten Ton, die sie mit einem Lagenwechsel realisiert. Dabei leidet zwar die Intonation, aber Frau Schmidt schafft es, das gesamte Lied ohne Unterbrechung zu spielen. Frau Feierabend kommentiert mit keinem Wort, dass Frau Schmidt den vorgestellten Saitenwechsel ignoriert hat, sondern lobt ihre Schülerin ehrlich und mit beschreibenden Worten für ihre erfolgreich durchgeführte Spieltechnik. Sigrid Schmidt kann dem zustimmen und beendet die Stunde zufrieden mit sich und ihrem Spiel.

Anke Feierabend lässt ihre Schülerin entscheiden, ob der Unterricht beendet sein soll. Frau Schmidt beantwortet die Frage nicht, zeigt aber, dass sie jetzt ihre Umgebung wahrnimmt, denn sie möchte mehr über eine Postkarte in Frau Feierabends Geigenkasten wissen. Damit beginnen Schülerin und Lehrerin, aus der Unterrichtsituation und den Flow-Erlebnissen des gemeinsamen Musizierens wieder in den Alltag überzuleiten, in dem Frau Schmidts Tochter schon hinter der Filmkamera wartet, um sie abzuholen. Frau Feierabend beendet die gemeinsame Zeit mit Berührungen und liebevollen Worten des Lobes. Neben dem Lied Der Mond ist aufgegangen gehört auch dies zum Abschlussritual, und manchmal fordert die Lehrerin auch halb im Scherz, dass die Schülerin ihre eigene Leistung anerkennt, und Frau Schmidt spielt dieses kleine Spiel humorvoll mit.

Formulierungen für den Abschluss

13. und 14. Unterrichtsstunde

In den Filmen von der 13. und 14. Stunde sind weitere Beispiele dafür zu sehen, mit welchen Formulierungen der Lehrer oder die Lehrerin den Unterricht beenden kann. Ziel ist nicht nur eine Überleitung in den Alltag, sondern auch eine möglichst positive Bewertung der ganzen Unterrichtsstunde auszusprechen. Dies ist vielleicht bei demenziell veränderten Schülerinnen und Schülern noch wichtiger als bei gesunden, denn Demenzerkrankte haben vielleicht einzelne Erfolge oder Misserfolge im vergangenen Unterricht vergessen, und es ist wichtig, dass ein positives Gefühl am Ende steht und bleibt.

In der 13. Stunde streicht Sigrid Schmidt die letzten Töne von Der Mond ist aufgegangen mit dem ganzen Bogen und scheint mit Leib und Seele in dem positiven Gefühl des erfolgreichen Musizierens aufzugehen. Dieses Gefühl verstärkt Anke Feierabend mit den resümierenden Worten „Das war wieder eine tolle Stunde“ sowie mit liebevollen körperlichen Berührungen, und Frau Schmidt kann das auch mit eigenen Worten bestätigen.

In der 14. Stunde leitet Frau Feierabend das Schlussritual mit deutlich erhobener Stimme ein. Da es draußen noch hell ist, betont sie, dass das Lied eigentlich nicht passt, sondern gespielt werden soll, weil es das Schlusslied jeder Unterrichtsstunde ist. Frau Schmidt setzt sofort die Geige an und wartet darauf, dass ihre Lehrerin mit ihr beginnt.

„Ich glaub’, es reicht für heute“ ist ein weiteres Beispiel für eine Formulierung, die das Ende der Stunde einleitet. Frau Schmidt reagiert wie in dieser Stunde häufig mit dem Hinweis, dass sie schon Schmerzen im Nacken spürt. Sie sagt dies aber meistens fröhlich, als sei sie stolz darauf, dass sie hart gearbeitet hat und bis an ihre Grenzen gegangen ist – eine Einstellung zur Leistungserwartung, die vielleicht für ihre Generation typisch ist.

Ruhig und ernsthaft sagt sie am Schluss „Danke“ zu ihrer Lehrerin und meint damit wahrscheinlich nicht das aktuelle Lob, sondern den Unterricht an sich. Frau Feierabend antwortet in gleicher Weise ernsthaft „sehr gerne“ und dankt ihrer Schülerin. Nicht dafür, dass sie gut spielt, sondern dass sie stets gut mitmacht und Ausdauer und Freude zeigt. Sigrid Schmidt richtet bei den Worten ihrer Lehrerin ihren Oberkörper mehr und mehr auf, lächelt freudig und zufrieden und bestätigt das Lob.

Selbstständigkeit unterstützen

16. Unterrichtsstunde

Im Vergleich zu früheren Stunden lässt sich in der 16. Stunde eine Entwicklung bei Sigrid Schmidt beobachten: Sie ist sehr aktiv, übernimmt die Initiative und beginnt häufig aus eigenem Antrieb alleine zu spielen. Als Anke Feierabend fragt, ob sie nun zum Abschluss Der Mond ist aufgegangen spielen sollen, setzt Frau Schmidt sofort die Geige an, und ihre Antwort „Wenn ich es schaffe, ja!“ drückt auch ihren Willen zum Erfolg aus. Sie wählt selbstständig die A-Saite und beginnt kräftig zu spielen. Frau Feierabend wartet zunächst ab und schlägt dann vor, das Lied mit der D-Saite zu beginnen, damit es nicht zu hoch wird. Dass sie dann recht langsam das Lied vorzuspielen beginnt, scheint ihre Schülerin zu langweilen. Sie will, dass es für sie weitergeht, und dirigiert mit dem Bogen in der Luft. Frau Feierabend reagiert sofort, unterbricht ihr Vorspiel, um Frau Schmidt ins Spiel einzubeziehen. Die fängt schon an zu spielen, noch bevor Frau Feierabend ihren Satz beendet hat, und arbeitet sich durch das Lied so versunken in ihr Spiel, dass sie automatisch aus dem Körpergedächtnis heraus den Saitenwechsel zur Sexte im Lied durchführt. Als sie unzufrieden über die Quietschtöne ihrer Geige den Kopf schüttelt, scheint sie nicht länger intuitiv zu spielen, sondern eher ihre Finger kontrollieren zu wollen. Der Saitenwechsel klappt nun nicht automatisch, sie bricht ab und summt das Lied weiter, während Frau Feierabend die Spieltechnik beim Saitenübergang erklärt und vorführt. Auch die körperlich bewegende Vermittlung – Frau Feierabend drückt den Zeigefinger ihrer Schülerin auf die richtige Position der Saite – bringt in dieser Situation keinen Erfolg, und die Lehrerin erinnert ihre Schülerin daran, dass die Finger im vorherigen Durchgang ganz von alleine die richtigen Positionen gefunden haben. Daran kann sich aber Frau Schmidt jetzt nicht erinnern, und sie beginnt schnell aus eigenem Antrieb, wieder alleine das Lied von Beginn an zu spielen. Frau Feierabend lässt sie gewähren, damit Frau Schmidt in ihrem eigenen Tempo ihre eigene Spielweise erarbeiten kann. Trotz des großen Erfolgswillens bleibt die Atmosphäre humorvoll und unbeschwert: Frau Schmidt spuckt buchstäblich auf ihre „unsauber“ spielenden Finger (oder auf den unwilligen hohen Ton?), und Frau Feierabend wählt eine Formulierung aus Kinderspielen, bei denen die körperliche Nähe zum gesuchten Objekt mit „heiß“ beschrieben wird.

Im weiteren Verlauf lässt Frau Feierabend ihre Schülerin noch mehrmals alleine spielen, und diese findet auch selbstständig einen befriedigenden Schluss des Liedes. Frau Schmidt kommentiert sofort, welche Anstrengung es für sie bedeutet hat, und wirkt dabei erleichtert und erfreut. Der schmerzende Nacken gibt den Impuls für die abschließenden Worte von Frau Feierabend: ein Lob für die gesamte Stunde samt herzlicher körperlicher Berührung und der Nachfrage, ob es genug sei für diese Unterrichtsstunde. Sigrid Schmidt kann selbst entscheiden, wann der Unterricht beendet sein soll, und tut dies hier ein bisschen widerwillig, weil sie vielleicht noch gerne länger musiziert hätte.

22. Unterrichtsstunde

Auch in den späteren Unterrichtsstunden bietet Anke Feierabend stets an, das Lied Der Mond ist aufgegangen zum Abschluss zu spielen. Sigrid Schmidt ist immer wieder motiviert, auch mehrere Durchgänge zu spielen, wie hier in der 22. Stunde. Das Ritual besteht weiterhin daraus, dass Frau Feierabend fragt, ob es genug für heute sei, und dass Frau Schmidt ihre körperliche Erschöpfung zum Ausdruck bringt. Frau Feierabend spricht dann ein Lob über die ganze Stunde aus, verbunden mit herzlichen körperlichen Berührungen. In diesem Filmbeispiel ist noch einmal gut zu sehen, wie glücklich Sigrid Schmidt lächelt, als sie sagt „Hat auch Spaß gemacht!“

Planvolles Handeln trotz fortschreitender Demenz

24. Unterrichtsstunde

Auch nach dem Umzug von Sigrid Schmidt in die Pflegeeinrichtung in Hameln besucht Anke Feierabend sie weiterhin zum Violinunterricht – allerdings nur einmal im Monat – und beendet auch hier die Stunden mit dem rituellen Schlusslied Der Mond ist aufgegangen. Wenn man berücksichtigt, dass der Umzug von Frau Schmidt notwendig geworden war, weil sie aufgrund der fortschreitenden Demenz nicht mehr in ihrer häuslichen Umgebung versorgt werden konnte, dann ist es umso erstaunlicher, dass sie beim Musizieren nach wie vor kaum Anzeichen von kognitiven Beeinträchtigungen zeigt. Sie scherzt mit ihrer Lehrerin, als eine plötzliche Nasenreizung dazu führt, dass sie eine virtuose Verzierung auf der Geige spielt. Und sie scheint sogar ihre Spieltechnik zu planen, denn sie wechselt frühzeitig die Lage, um den Ton h’ in Der Mond ist aufgegangen sauber intonieren zu können. Ein solches planvolles Handeln ist eigentlich für Menschen im fortgeschrittenen Stadium der Demenz nicht mehr möglich. Es könnte aber auch sein, dass Frau Schmidt den Lagenwechsel eher intuitiv aus dem Körpergedächtnis heraus vollzieht, denn das Körpergedächtnis bleibt auch bei Demenz noch lange erhalten.

Auf die Nachfrage ihrer Lehrerin spricht Frau Schmidt sehr bestimmt aus, dass sie erschöpft ist und nicht mehr weiterspielen möchte. Und so beginnt Frau Feierabend mit den abschließenden körperlichen Berührungen und den lobenden Worten, die sich auf die gesamte Stunde beziehen und sehr herzlich und ehrlich sind. Gerade in der neuen Wohnsituation, wo Sigrid Schmidt sicherlich häufig mit ihren zunehmenden Defiziten konfrontiert wird, ist das Geigenspiel eine Konstante, die erhalten bleibt. Ihre Worte „Ohne ganz toll wird’s ja auch nix!“ mögen unpassend erscheinen, aber die Freude über ihre Erfolgserlebnisse beim gemeinsamen Musizieren kommt im Tonfall und in ihrer Mimik deutlich zum Ausdruck. Und das formuliert sie auch mit sehr passenden Worten: „Macht ja auch Spaß!“

Ehrgeiz und Ausdauer unterstützen

25. Unterrichtsstunde

Von der 25. Stunde existieren Nahaufnahmen, die die Mimik von Sigrid Schmidt und ihre Greiffinger beim Violinspiel zeigen und die Erkenntnisse aus der vorherigen Stunde vertiefen.

Als Anke Feierabend den Titel des Abschlussliedes Der Mond ist aufgegangen nennt, schaut Frau Behrens sofort zum Fenster – sie hat die Worte also verstanden und realisiert, dass das Lied nicht zur Tageszeit passt. Dieses schnelle Verstehen und in Beziehung setzten mit anderen Wahrnehmungen ist bei Frau Schmidt außerhalb des Geigenunterrichts selten zu beobachten und für Demenzerkrankte in diesem Stadium ungewöhnlich.

Allerdings hat die Schülerin in diesem Moment noch keine Klangvorstellung von dem Lied und spielt zunächst eine Moll-Tonleiter, während die Lehrerin gleichzeitig das Lied beginnt. Vielleicht geht Frau Schmidt aber auch davon aus, dass wie so häufig im Unterricht zunächst eine Tonleiterübung vorangestellt wird. Als sie bemerkt, dass sie anders spielt als ihrer Lehrerin, bricht sie ab und schmunzelt. In der Nahaufnahme ihres Gesichtes ist sehr deutlich zu sehen, dass sie fröhlich ist und sich ihre Fehler schnell verzeiht, weil das in der vertrauensvollen Atmosphäre des Unterrichts mit Frau Feierabend möglich ist. Beim nächsten Start spielt Frau Schmidt erneut eine Tonleiter statt des Liedes, allerdings jetzt die Dur-Tonleiter. Sie hat gemerkt, dass die Moll-Tonleiter nicht zum Lied passt und absichtsvoll den dritten Ton zur Dur-Terz erhöht. Wieder bricht sie überrascht und schmunzelnd ab, weil ihr Spiel nicht unisono mit dem ihrer Lehrerin ist, und Anke Feierabend lobt sie genauso fröhlich, indem sie hervorhebt, dass sie jetzt zweistimmig spielen.

Beim Schluss des ersten Versuchs von Der Mond ist aufgegangen ist an Frau Schmidts Greifhand zu erkennen, dass sie die hohen Töne in höheren Lagen gespielt hat und für die letzten Töne in die erste Lage zurückkehren muss, was zu unsauberer Intonation führt. Wieder lacht sie darüber und bemerkt ironisch, dass das “wunderschön” klang. Auch Frau Feierabend lacht und erkennt, dass die erwachsene Schülerin mit ihrem Spiel noch nicht zufrieden war. So ist der nächste Durchgang des Liedes quasi Frau Schmidts eigene Entscheidung. In der Nahaufnahme ihrer Greiffinger zeigt sich nun ihre planvolle Absicht, die hohen Töne des Liedes mit einem Saitenwechsel zu realisieren: Sie geht schon vor dem ersten hohen Ton mit dem Bogen auf die leere A-Saite und testet dann mit den Fingern einige Töne, bis sie denjenigen gefunden hat, der zu ihrer Klangvorstellung des Liedes passt. Ihre Konzentration ist dermaßen auf ihre Greiffinger fokussiert, dass sie auch ihren Bogen immer weiter Richtung Griffbrett bewegt, was zu Quietschgeräuschen führt. Auch die Wiederholung spielt sie mit einem Saitenwechsel, sucht den richtigen Ton und startet den Abschnitt erneut, als sie ihn gefunden hat. Frau Feierabend passt sich an das selbstbestimmte Spiel ihrer Schülerin an und unterstützt die Töne zurückhaltend. Im Anschluss lobt sie Frau Schmidt ernsthaft, und diese betrachtet erschöpft und fast verwundert ihre Geige.

Der weitere Verlauf des Films ist eigentlich ein Bespiel für Wille und Ausdauer, die Frau Schmidt immer wieder im Unterricht zeigt. Sie äußert zwar, dass sie erschöpft ist und Schmerzen hat, bestätigt jedoch Frau Feierabends abschließendes Lob, das die ganze Stunde betrifft. Und als die Lehrerin dann andeutet, dass sie die Geige mitnehmen wird (da sie aus Haftungsgründen nicht in der Pflegeeinrichtung bleiben darf), setzt die Schülerin plötzlich das Instrument wieder an den Hals und testet einige Töne, als wolle sie weiterspielen. Sie scheint das gemeinsame Musizieren aufrechterhalten zu wollen, und Frau Feierabend hat zum Glück das Gespür und die zeitliche Kapazität dafür, den Wunsch zu erfüllen. Auf die Frage, welches Lied sie denn spielen möchte, weiß Frau Schmidt keine Titel und hält die Geige erwartungsvoll spielbereit. Sie hat aber sehr wohl klare Präferenzen und weiß sofort, dass sie nicht Hänschen klein und auch nicht noch einmal Der Mond ist aufgegangen spielen will. Beim Vorschlag Und in dem Schneegebirge ist sie sofort begeistert und antwortet „Au ja!“

Nachdem sie das Lied gespielt haben, gibt Frau Feierabend erneut mit ihrem Tonfall zu erkennen, dass sie die Stunde beenden möchte, doch Frau Schmidt behält die Geige am Hals und streicht über die Saiten. Auf die direkte Frage „Wollen wir jetzt aufhören?” – verstärkt mit einem suggerierenden Nicken – erhält Frau Feierabend die Antwort „Können wir oder müssen wir oder dürfen wir?” Sigrid Schmidt würde noch weiterspielen, aber sie ist unsicher, ob sie frei entscheiden darf oder ob andere über sie bestimmen.

Frau Feierabend reagiert auf diese sinnige Aussage mit Lachen und erhält vom Kameramann außerhalb des Bildes die Auskunft, dass sie schon länger als eine Stunde spielen. Frau Schmidt ist stolz, aber auch erschöpft, und als die Lehrerin zum wiederholten Male ausspricht, dass es jetzt genug ist und dass sie für heute Schluss machen, legt Frau Schmidt endlich ihre Geige aus der Hand.

Zusammenfassung

Noch mehr als bei gesunden Schülerinnen und Schülern ist es im Instrumentalunterricht mit demenziell veränderten Menschen wichtig, ein Ritual für den Abschluss der Unterrichtseinheit zu etablieren. Ziel ist es dabei, ein Signal zur Beendigung der Stunde zu geben und den Übergang in den Alltag einzuleiten. Da der Schüler oder die Schülerin vielleicht mitten in einem Flow-Erlebnis ist und dieses aufrechterhalten will, kann es die Lehrkraft mitunter Geduld und Anstrengung kosten, den Unterricht zu beenden.

Das Lied, das als Abschlusslied gewählt wird, sollte nicht zu schwierig sein und inhaltlich die Themen „Abschied“ oder auch „Abend“ darstellen. Besonders die letzten Töne des Liedes werden der demenzerkrankten Person im Gedächtnis – und mehr noch im Gefühl – bleiben. Daher ist es wichtig, dass die letzten Töne einfach und angenehm zu spielen sind, wie z. B. bei Der Mond ist aufgegangen.

Mit Pausen, erlösendem Durchatmen und erhobenem Tonfall kann die Lehrkraft deutlich machen, dass ihre positive Bewertung sich auf die gesamte Stunde bezieht, und die lobenden Worte können je nach Typ und Art der Beziehung mit Nähe und körperlicher Berührung bestärkt werden. Demenzerkrankte vergessen oft Worte, aber selten, wie sie sich in der Gegenwart anderer gefühlt haben.

Der Übergang in den Alltag kann außerdem unterstützt werden, indem Gegenstände aus der Umgebung wahrgenommen oder die zeitlich nächsten Ereignisse, zum Beispiel die nächste Mahlzeit, thematisiert werden. Es sollte eine positive und humorvolle Stimmung erzielt werden, in der sich vielleicht auch immer wiederkehrende Scherze etablieren und Orientierung bieten.

Manchmal ist dann doch noch nicht Schluss, weil die Schülerin oder der Schüler Ausdauer und Ehrgeiz zeigt und weiterspielen will. Dann wäre es schön, wenn die Lehrkraft die Möglichkeit hat, diesen Wunsch zu erfüllen.