Validierende Haltung

Diese Seite enthält Beispiele für Anke Feierabends valdierende Haltung im Unterricht mit Sigrid Schmidt. Grundlegende Informationen zum Thema Validation sowie zur validierenden Haltung beim gemeinsamen Musizieren sind unter "Musik und Validation" unter dem Menütitel „Demenz“ zu finden.

Validierende Haltung am Beispiel des Liedes Der Kuckuck und der Esel

14. Unterrichtsstunde

Das bekannte und beliebte Kinderlied Der Kuckuck und der Esel führt Anke Feierabend zum ersten Mal in der 14. Stunde ein. Sie beginnt dabei mit der Übung der Dur-Tonleiter auf der D-Saite bis zur Quinte, die notwendig ist, damit die Greiffinger in den richtigen Positionen für fast alle Töne des Liedes sind.

Tonleiterübung:

Anke Feierabend kündigt meistens im Anschluss an die Tonleiterübung nochmals mit deutlichen Worten den Titel des Liedes an, welches sie jetzt spielen wollen. Wie so oft spielt Frau Schmidt zunächst automatisch das Lied Hänschen klein, dessen erste zwei Töne identisch mit denen von Der Kuckuck und der Esel sind. Das Lied ist so fest im Körpergedächtnis von Frau Schmidt verankert, dass die Finger es immer wieder automatisch greifen. Frau Feierabend weiß das inzwischen und spielt unbeirrt deutlich Der Kuckuck und der Esel weiter, und wie so oft realisiert Frau Schmidt schnell ihr abweichendes Spiel: „Ach so!“ Gemeinsam mit ihrer Lehrerin beginnt sie jetzt mit dem korrekten Lied. Die Terzsprünge abwärts gelingen wie von selbst, ohne dass Frau Schmidt suchen muss. Im weiteren Verlauf des Liedes findet sie die Töne weniger sicher, und statt dem Saitenwechsel mit dem 1. Finger auf der A-Saite spielt sie den Ton h’ in der höheren Lage.

Frau Feierabend lobt sie dafür und thematisiert nicht, dass ein Saitenwechsel vielleicht sinnvoller gewesen wäre, denn für Frau Schmidt war ihr eigenes Spiel im Klangergebnis zufriedenstellend, und eine andere Bewertung hätte sie vielleicht verunsichert. Sie schlägt auch nicht vor, die einfachere Version von Der Kuckuck und der Esel ohne Wechselton zum h’ zu spielen, denn ihre Schülerin scheint die erste Version zu kennen und spielen zu wollen.

Der Kuckuck und der Esel

Alternative Version:

Im weiteren Verlauf der Situation beginnt Frau Schmidt selbstständig die leere A-Saite zu streichen, als würde sie die Sequenz mit der punktierten Viertel ausprobieren wollen. Frau Feierabend unterstützt dieses Vorhaben und spielt noch einmal den Takt mit dem Saitenwechsel vor (punktierte Viertel a’, Achtel h’, Viertel a’, Viertel g’). Frau Schmidt wiederholt den Takt gemeinsam mit ihrer Lehrerin und spielt dann weiter das Weihnachtslied Alle Jahre wieder, das tatsächlich genau mit dieser Sequenz beginnt. Während Frau Schmidt entsprechend dem Weihnachtslied den Folgetakt mit zwei Halben fis’ und e’ spielt, spielt Frau Feierabend Der Kuckuck und der Esel zu Ende, was sich ausschließlich rhythmisch, nicht aber tonlich von Alle Jahre wieder unterscheidet.

Als Frau Feierabend endet, Frau Schmidt jedoch weiterspielt, blickt sie im Spiel erstaunt auf und schaut ihre Lehrerin fragend an. Frau Feierabend hat inzwischen realisiert, welches Lied Frau Schmidt spielt, lobt sie kurz (“Schön!”) und steigt nahtlos in das neue Lied mit ein. Im Anschluss betrachtet Frau Schmidt ihre Geige und lacht. Vielleicht ist sie selbst überrascht, dass aus ihr heraus plötzlich etwas Neues, Schönes entstanden ist.

Alle Jahre wieder

In diesem Beispiel zeigt sich deutlich die sogenannte validierende Haltung, die Anke Feierabend im Instrumentalunterricht gegenüber ihren demenziell veränderten Schülern stets einnimmt. Anstatt die Schülerin auf ihren Fehler hinzuweisen und auf dem ursprünglichen Lied zu beharren, reagiert sie flexibel auf die neue Entwicklung und sieht die Chancen darin. Validierende, also wertschätzende Haltung gegenüber Demenzerkrankten bedeutet, dass wir deren unpassendes oder anders als erwartetes Verhalten als für sie richtig und angemessen verstehen und entsprechend reagieren.

Als Frau Schmidt die Töne beim Saitenwechsel von Der Kuckuck und der Esel isoliert spielt und dabei die Bewegung ihrer Lehrerin nachahmt, wird ihr Körpergedächtnis aktiviert, das für diese Tonfolge das Lied Alle Jahre wieder erkennt. Das Weihnachtslied beginnt mit derselben Tonsequenz, und es scheint für Frau Schmidt in diesem Moment genau das richtige Lied zu sein. Sie kann damit den Saitenwechsel korrekt durchführen, denn der steht in diesem Lied gleich am Anfang. Ihre Finger haben es sehr präsent und spielen quasi wie von selbst. Frau Feierabend erkennt die große Chance, die sich durch den vermeintlichen Fehler eröffnet hat, und bleibt bei dem Lied Alle Jahre wieder, das Frau Schmidt mit großer Freude und Zufriedenheit mehrmals spielt und dabei den Handlungsablauf beim Saitenwechsel festigt. Dabei spielt es keine Rolle, dass gerade Ostern ist, und Lehrerin und Schülerin scherzen über diese Freiheit, die sie sich nehmen, anstatt Konventionen zu folgen.

18. Unterrichtsstunde

Als Anke Feierabend in einer späteren Stunde erneut das Kinderlied Der Kuckuck und der Esel vorschlägt, realisiert Sigrid Schmidt den hohen Ton h’ wieder mit einem Lagenwechsel auf der D-Saite. Dadurch hat sie Schwierigkeiten, die restlichen Töne des Liedes sauber zu intonieren, aber sie behält ihre gute Laune und freut sich darüber, dass sie ihre Probleme schon vorhergesehen hat. Sie kommt nicht von sich aus auf die Idee, dass ein Saitenwechsel sinnvoll wäre, und Frau Feierabend erwähnt dies jetzt auch nicht, denn der Saitenwechsel hatte ja in der 14. Stunde dazu geführt, dass die Schülerin die Klangvorstellung von dem Lied Der Kuckuck und der Esel verloren und in das Lied Alle Jahre wieder gewechselt hatte. Stattdessen lobt Frau Feierabend jetzt ihre Schülerin, weil sie eine Lösung für das Lied gefunden hat, und Frau Schmidt ist sofort motiviert, das Lied noch einmal zu spielen. Im Anschluss an die Szene, die im Filmbeispiel gezeigt wird, spielen die Frauen noch zwei weitere Durchgänge von Der Kuckuck und der Esel, wobei Frau Schmidt den Ton h’ jedes Mal mit einem Lagenwechsel umsetzt und es schafft, die letzten Töne zunehmend sauberer zu intonieren.

Zusammenfassung

Frau Feierabend lässt die Schülerin jedes Mal vor dem Lied zunächst die Tonleiter gemeinsam mit ihr spielen. Dadurch ist gewährleistet, dass die Greiffinger die richtige Intonation für die Töne des Liedes finden.

Als Frau Schmidt mit Hänschen klein statt Der Kuckuck und der Esel beginnt, geht sie nicht darauf ein, weil sie weiß, dass Frau Schmidt von den ersten Stunden an dieses Lied immer automatisch spielen will und sich selbst schnell korrigiert.

Bei dem spontanen Entstehen des Liedes Alle Jahre wieder dagegen reagiert die Lehrerin validierend und flexibel, denn sie sieht eine große Chance in dem vermeintlichen Fehler: Alle Jahre wieder eignet sich für Frau Schmidt in diesem Moment hervorragend, um den Saitenwechsel zu bewältigen, und diese Idee entstammt allein aus dem unbewusst aktiven Körpergedächtnis ihrer Schülerin.

Aus dieser Erkenntnis könnte man folgern, dass es vielleicht auch sinnvoll wäre, die Schülerin immer wieder Hänschen klein spielen zu lassen, wenn ihre Finger es automatisch spielen wollen. Frau Feierabend lenkt jedoch von dem Lied ab, weil sie in ihrer Schülerin zu diesem Zeitpunkt noch viele weitere Potenziale sieht. Im weiteren Verlauf der demenziellen Veränderungen bei Frau Schmidt oder bei Demenzerkrankten in einem späteren Stadium kann es durchaus richtig sein, ein einziges – gut beherrschtes – Lied immer wieder zu spielen. Der Schüler oder die Schülerin würde vermutlich immer nur das Hier und Jetzt erleben, ohne einen Überblick zu haben über schon Geschehenes und noch Geplantes. Es würde allein der Glücksmoment des gelingenden Liedes vorherrschen und Zufriedenheit und Selbstwertgefühl bewirken.

Validierende Haltung am Beispiel des Liedes An der Saale hellem Strande

Um dieses Beispiel einer validierenden Haltung in der 16. Unterrichtsstunde zu verstehen, ist es zunächst notwendig zu beobachten, wie Anke Feierabend das Volkslied An der Saale hellem Strande mit Sigrid Schmidt einübt, das sie schon in der 14. und 15. Unterrichtsstunde gespielt hatten. Auf der Violine kann es fast ausschließlich auf einer Saite gespielt werden, nur ein Ton muss auf der nächsthöheren Saite gegriffen werden. Eine weitere Schwierigkeit in dem Lied besteht in mehreren Terzsprüngen ab der zweiten Zeile.

An der Saale hellem Strande

16. Unterrichtsstunde

In der 16. Stunde summt Anke Feierabend das Lied kurz für sich und kündigt es dann mit dem Titel an. Frau Schmidt hat die Geige noch spielbereit am Hals und beginnt als Erste von beiden, das Lied auf der D-Saite zu spielen. Sie ist also sofort motiviert und zuversichtlich, dass sie das Lied spielen kann. Frau Feierabend spielt zunächst nur leise unterstützend mit, damit Frau Schmidt zusätzlich zu ihrer eigenen Klangvorstellung eine Orientierung in der Intonation bekommt.

Die Melodie dieses Liedes besteht in den ersten vier Takten ausschließlich aus den Sekundschritten der Dur-Tonleiter, die Frau Schmidt auf der D-Saite mit nur kleinen Korrekturen in der Intonation spielt. Sie gibt ein langsames Tempo vor und ihre leichte Körperbewegung lässt vermuten, dass sie das Musizieren genießt.

Der Saitenwechsel gelingt ihr ohne Probleme: Aus ihrem Körpergedächtnis heraus spielt sie automatisch die leere A-Saite und mit dem 1. Finger den Ton h’. Bei der Wiederholung derselben Tonabfolge hat sie Schwierigkeiten, den Saitenwechsel zu realisieren. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich in den Tönen davor: Beim ersten Saitenwechsel steht zuvor der Ton e’, und ein neuer Abschnitt des Liedes beginnt. Vor der Wiederholung endet der Abschnitt auf dem Ton a’, den Frau Schmidt mit dem 4. Finger auf der D-Saite greift, anstatt die leere A-Saite zu spielen. Aus dieser Ausgangssituation finden ihre Finger den Übergang nicht. Frau Schmidt hat aber inzwischen stets Freude am Spiel und kann auch über nicht gelungene Passagen gemeinsam mit ihrer Lehrerin lachen. Frau Feierabend erklärt die zwei möglichen Fingersätze beim Übergang auf die A-Saite mit Worten und zeigt deutlich ihre Fingerbewegung dabei. Frau Schmidt schaut ihr dabei zu.

Auch der Schlussteil des Liedes besteht aus demselben Saitenwechsel mit dem Ton a’ davor. Als Frau Schmidt bei einem nächsten Durchgang dieser Wechsel wieder nicht gelingt, bewegt Frau Feierabend den Zeigefinger ihrer Schülerin in die richtige Position auf der Saite. So findet die Schülerin wieder in den Automatismus ihrer Fingerbewegungen und kann das Lied erfolgreich beenden. Im Anschluss beginnt Frau Schmidt selbstständig, die Schlusspassage auf ihrer Violine Ton für Ton zu suchen. Frau Feierabend lässt sie gewähren ohne zu helfen und lobt sie nach erfolgreichem Spiel dafür, dass sie die schwierige Stelle ohne Unterstützung gemeistert hat. Auch Frau Schmidt ist sichtlich stolz auf ihre zunehmende Emanzipation von ihrer Lehrerin.

Die Situation, in der sich die validierende Haltung von Frau Feierabend gegenüber ihrer demenziell veränderten Schülerin zeigt, ereignet sich im späteren Verlauf der 16. Stunde, als sie das Lied Kommt ein Vogel geflogen spielen und den Saitenwechsel üben. Um den ersten Ton des Liedes korrekt zu intonieren, leitet Frau Feierabend eine Tonleiterübung in D-Dur bis zum 2. Finger an.

Kommt ein Vogel geflogen

Tonleiterübung:

Nach der Wiederholung der Tonleiterübung beginnt Frau Schmidt plötzlich ohne Ankündigung das Lied An der Saale hellem Strande zu spielen, bei dem die ersten drei Töne identisch mit der Tonleiterübung sind. Frau Feierabend hält inne und realisiert, dass ihre Schülerin unbewusst wieder in das Lied vom früheren Zeitpunkt der Unterrichtsstunde gerutscht ist. In der Nahaufnahme ist zu sehen, dass Sigrid Schmidt verwundert aufschaut, als würde sie ihre Lehrerin fragen, ob das so in Ordnung ist. Die lässt sich ihre Überraschung aber nicht anmerken, sondern nickt fast unmerklich und steigt in das Lied von Frau Schmidt ein. Würde Frau Feierabend ihre Schülerin darauf hinweisen, dass sie gerade ein anderes Lied spielen, könnte das Frau Schmidt verunsichern, denn sie hat vermutlich vergessen, welches Lied sie eigentlich spielen wollten und spielt intuitiv das, was jetzt in ihr präsent und deshalb richtig ist. Die Saitenwechsel gelingen besser als früher, und den Schlussteil spielt sie zwar in einer höheren Lage auf der D-Saite, aber korrekt, so dass Frau Feierabend im Anschluss ein Lob aussprechen kann. Über den plötzlichen Wechsel der Lieder sprechen weder Lehrerin noch Schülerin.

Ein weiteres Beispiel für die validierende Haltung der Lehrerin zeigt sich gleich im Anschluss: Vielleicht benötigt Frau Schmidt jetzt eine Ablenkung und eine Pause vom Musizieren, denn sie schaut aus dem Fenster und lobt die Blumen in Frau Feierabends Garten. Frau Feierabend geht sofort darauf ein und nimmt sich Zeit für ein Gespräch über Blumen, bevor sie mit dem Unterricht fortfährt.

Zusammenfassung

Wenn eine demenziell veränderte Person im Instrumentalunterricht spontan ein Lied spielt, das gerade nicht zum Gegenstand des Unterrichts passt, dann ist es für die Lehrkraft sinnvoll, dieses neue Lied aufzugreifen und – wenn möglich – daran weiterzuarbeiten. Diese Haltung ist ein Beispiel für „Validation“, also wertschätzendes Verhalten, das im Umgang mit Demenzerkrankten so wichtig ist. Es würde den Schüler oder die Schülerin vielleicht verunsichern, wenn die Lehrkraft ihr Spiel als falsch beurteilt und auf dem gewünschten Lied beharrt. Nicht zuletzt könnte das vermeintlich falsche Lied auch eine Chance sein, weil der oder die Demenzerkrankte womöglich unbewusst und intuitiv genau das Richtige gewählt hat, was er oder sie jetzt im Unterricht braucht.

Wie An der Saale hellem Strande beginnen auch die bekannten und beliebten Volkslieder Der Mai ist gekommen und Muss i denn zum Städtele hinaus mit den ersten drei Tönen der Dur-Tonleiter in derselben rhythmischen Einteilung.

Beide verwendet Anke Feierabend im weiteren Verlauf dieser 16. Unterrichtsstunde, und tatsächlich spielt Frau Schmidt jeweils den Anfang ohne Schwierigkeiten. Allerdings beinhalten beide Lieder verschiedene Saitenwechsel und große Sprünge, die zu diesem Zeitpunkt von Frau Schmidt (noch) nicht aus dem Körpergedächtnis heraus realisierbar sind.

Validierende Haltung am Beispiel des Liedes Und in dem Schneegebirge

19. Unterrichtsstunde

Als Frau Feierabend in der 19. Stunde das Lied Und in dem Schneegebirge vorschlägt und zu summen beginnt, stimmt Frau Schmidt zwar sofort mit ein, allerdings summt sie beharrlich in einer anderen Tonart, die die Lehrerin dann übernimmt. Sie lässt die Schülerin lange summen, damit die ihre eigene Klangvorstellung von dem Lied sicher entwickeln kann. Die Nahaufnahme zeigt, wie Frau Schmidt ihre Lehrerin dabei konzentriert anschaut und mit Bewegungen von Kopf und Oberkörper ihr Summen musikalisch unterstützt: Sie verinnerlicht das Lied mit Leib und Seele und ist dann auch gleich motiviert, die Geige spielbereit an den Hals zu setzen. Dass sie zusätzlich noch in der Lage ist, einen bildlich gemeinten Scherz von Frau Feierabend zu verstehen und angemessen zu reagieren, ist bemerkenswert.

Und in dem Schneegebirge (D-Dur)

Frau Schmidt ist zunächst ratlos, wie sie nach dem anfänglichen Dreiklang die Sexte auf der Geige realisieren soll, und kann in dieser vertrauensvollen Atmosphäre ihr Unvermögen ohne Scham zugeben und von ihrer Lehrerin Hilfe annehmen. Frau Feierabend bietet ihr eine visuelle Vermittlung der Spieltechnik an, und die Nahaufnahme von Frau Schmidts Gesicht zeigt, wie sie konzentriert zuschaut. Sie scheint aber das Gesehene nicht nachahmen zu können oder zu wollen, sondern spielt die Sexte im nächsten Versuch ohne Zögern auf der D-Saite in der höheren Lage. Frau Feierabend bemerkt dies lächelnd und korrigiert sie nicht, sondern validiert diese spieltechnische Lösung als für die Schülerin in diesem Moment passend und richtig. Frau Schmidt wirkt in diesen Szenen sehr in sich versunken und mit sich beschäftigt und scheint beim Suchen der richtigen Töne den Zusammenhang des Liedes in ihrer Klangvorstellung zu verlieren. Sie erkennt plötzlich in dem Vorspiel der Lehrerin ein Teil des Liedes Summ, summ, summ, Bienchen summ herum, und glaubt nun, dass sie ein anderes Lied spielen. Sie spielt unvermittelt den B-Teil der Melodie von Summ, summ, summ, in einer rhythmischen Aufteilung, die der in Und in dem Schneegebirge ähnelt.

Wir können vielleicht nachempfinden, wie Frau Schmidt die Unterrichtssituation wahrnimmt, wenn wir das Filmbeispiel bei Minute 1:46’ anhalten und uns einige Momente einer anderen Tätigkeit widmen. Wenn wir dann das Filmbeispiel an der genannten Stelle starten, erkennen wir in Frau Feierabends Vorspiel vielleicht auch eher das Lied Summ, summ, summ, Bienchen summ herum und nicht Und in dem Schneegebirge. Gemäß der Gestalttheorie ordnet unser Gehirn die gehörten Töne eher zu der charakteristischen Stelle in dem vermutlich bekannteren Lied. Im Gesamtablauf der Unterrichtssituation passiert uns dies nicht, weil in unserem Gedächtnis das Lied Und in dem Schneegebirge präsent ist. Frau Schmidts Kurzzeitgedächtnis ist aber stark eingeschränkt, daher kann es sein, dass sie die Klangvorstellung eines Liedes verliert, vorgespielte Töne wie zum ersten Mal hört und zu einer für sie naheliegenden Gestalt ordnet.

Anke Feierabend weiß um diese Besonderheit in der Wahrnehmung von Demenzerkrankten und geht sofort auf den Wechsel des Liedes ein, sobald sie es durch Spiegelung der Bewegungen ihrer Schülerin erkannt hat. Sie erwähnt mit keinem Wort, dass sie doch eigentlich gerade ein anderes Lied spielen, denn das würde Frau Schmidt verunsichern, die sich ja keines Fehlers bewusst sein kann, sondern sehr musikalisch und in sich versunken das Lied genießt. Die Lehrerin validiert und übt mit ihrer Schülerin weiter das Lied Summ, summ, summ, Bienchen summ herum, weil es jetzt richtig und passend ist.

Zusammenfassung

Die validierende Haltung der Lehrerin zeigt sich in diesem Beispiel zunächst darin, dass sie die Schülerin in der Tonart summen lässt, die sie möchte. Zweitens greift sie nicht ein und korrigiert nicht, als Frau Schmidt die Sexte in der Melodie in einer höheren Lage statt mit einem Saitenwechsel realisiert. Und schließlich übernimmt sie kommentarlos das andere Lied, in das die Schülerin unbewusst wechselt. Das wichtige Ergebnis dabei ist, dass Frau Schmidt sich wohlfühlt, stolz sein kann und Freude am gemeinsamen Musizieren hat.

Validierende Haltung beim Aufstrich/Abstrich am Beispiel Die Vogelhochzeit

Streichinstrumente werden durch Hin- und Herbewegen des Bogens abwechselnd mit Ab- und Aufstrichen gespielt. Der Abstrich bezeichnet das Streichen des Bogens in der Richtung vom Frosch – das ist der Teil des Bogens, an dem er gehalten wird – zur Spitze (also abwärts) und der Aufstrich den Strich in die andere Richtung (also aufwärts). Eine einzelne Note, als Abstrich gespielt, klingt stärker als eine mit Aufstrich gespielte. Daher wählt ein Geiger für betonte Zählzeiten in der Regel den Abstrich und für unbetonte den Aufstrich. Im Violinunterricht lernt der Schüler oder die Schülerin, dass zum Beispiel ein Schlusston als Abstrich gespielt werden sollte, während ein Lied mit einem einfachen Auftakt im Aufstrich begonnen wird, um die zweite Note als erste betonte Zählzeit hervorzuheben.

Anke Feierabend verzichtet im Unterricht mit demenziell veränderten Schülern und Schülerinnen meistens darauf, die Strichrichtung zu thematisieren. Anders als im sonstigen Unterricht macht sie diesbezüglich keine Vorgaben, die ihre Schüler und Schülerinnen übernehmen sollen. Auch im Unterricht mit Sigrid Schmidt achtet sie stattdessen eher darauf, welche Strichrichtung ihre Schülerin aus ihrem Körpergedächtnis heraus wählt, und gleicht ihr eigenes Spiel daran an. Der Grund dafür ist, dass die Unterschiede im Klangergebnis bei „korrekter“ Strichrichtung minimal wären, und die ungewohnte Bogenführung die Schülerin vermutlich verunsichern würde. Anke Feierabends Angleichung der eigenen Strichrichtung an die ihrer Schülerin ist ein weiteres Beispiel für die validierende Haltung, die dem Unterricht mit Demenzerkrankten zugrunde liegen sollte: Sie erkennt das Verhalten von Frau Schmidt als richtig und passend an und spiegelt es.

Beispiele dafür, dass Anke Feierabend ihre Strichrichtung an die von Sigrid Schmidt angleicht, sind vor allem bei Liedern zu sehen, die mit einem Auftakt beginnen, also bei Ein Männlein steht im Walde und Der Mond ist aufgegangen. Obwohl die Filmausschnitte zu diesen Liedern im hier präsentierten Lehrwerk andere Aspekte des Instrumentalunterrichts mit Demenzerkrankten zum Gegenstand haben, kann man vereinzelt erkennen, wie Anke Feierabend unmerklich ihre Strichrichtung an die ihrer Schülerin anpasst, denn Sigrid Schmidt beginnt konsequent jedes Lied mit einem Abstrich.

Auch bei dem Lied Wenn ich ein Vöglein wär’, das mit drei Noten als Auftakt vor der ersten betonten Zählzeit beginnt, würde jede Lehrkraft einen Aufstrich für den Beginn empfehlen. Bei den Filmszenen zu diesem Lied ist ebenfalls teilweise zu erkennen, dass Anke Feierabend ihre Strichrichtung die ihrer Schülerin angleicht.

Wir wählen hier das Lied Die Vogelhochzeit, um Anke Feierabends Methode zu demonstrieren. Das Lied hat einen markanten kurzen Auftakt, für den sich ein Aufstrich empfiehlt, weil auch die darauffolgenden Achtelnoten mit betonten und unbetonten Zählzeiten im Wechsel von Ab- und Aufstrich gespielt werden sollten.

Die Vogelhochzeit

22. Unterrichtsstunde

Anke Feierabend führt das Lied zum ersten Mal in der 22. Stunde ein. Wie so oft bei neuen Liedern spielt sie Die Vogelhochzeit zunächst komplett vor, um bei ihrer Schülerin das Gefühl von Erkennen und Erinnern zu wecken, das Demenzerkrankten im Alltag so oft abhanden kommt. Sie startet den unbetonten Auftakt des Liedes mit dem Aufstrich, um die betonten Zählzeiten wie oben beschrieben mit dem Abstrich hervorzuheben.

Frau Schmidt beginnt nach wenigen Tönen zu nicken und mitzusummen. Außerdem tippt sie mit dem Bogen den Rhythmus der Melodie mit den richtigen Tonabständen wie auf einer imaginären Klaviatur auf den Boden. Dies sind schon drei Arten, das Lied zu interpretieren, die Frau Schmidt trotz ihrer Demenzerkrankung noch zur Verfügung stehen. Im späteren Verlauf ihrer körperlichen und geistigen Veränderungen, wenn sie zeitweise auf der Geige nicht mehr spielt, wird sie weiterhin summen und den Rhythmus sowie die Tonabstände von Liedern beispielsweise durch das Tippen des Bogens auf dem Boden wiedergeben (siehe “Neue Formen des Musizierens“).

Sigrid Schmidt erkennt also Die Vogelhochzeit und hat Lust, das Lied zu spielen, denn sie hebt sofort die Geige an den Hals, als sie von Anke Feierabend gefragt wird, ob sie das Lied spielen möchte. Die Vorübung d’ – e’ – fis’ spielt sie nach, und sie beginnt gemeinsam mit ihrer Lehrerin das Lied mit dem Aufstrich. Allerdings wirkt ihr Spiel leise und unsicher, sie spielt die Quinte mit dem 3. statt dem 4. Finger und bricht schließlich mit einem Glissando ab. Frau Feierabend wendet nun die verbale und visuelle sowie die klingende Vermittlung an, indem sie ihr Griffbrett zeigt und dabei mit Worten erklärt, welche Finger sie am einfachsten benutzen kann. Das Vorspiel beginnt sie erneut mit dem Aufstrich, und Frau Schmidt schaut zu. Beim nächsten gemeinsamen Start des Liedes sieht man nun deutlich, wie Frau Feierabend mit dem Aufstrich beginnt, Frau Schmidt aber mit dem Abstrich, und die Lehrerin reagiert sofort und wechselt die Strichrichtung, um mit ihrer Schülerin einheitlich zu streichen. Dass die Bogenbewegungen nun quasi spiegelbildlich gleich sind, bestärkt Frau Schmidt in ihrem Spiel. Bei einem weiteren Durchgang, den sie auf Nachfrage ihrer Lehrerin spielen möchte, beginnt Frau Feierabend nun wie selbstverständlich mit dem Abstrich, und Frau Schmidt spielt deutlich kräftiger als zuvor. Die zwei Achtelnoten als Auftakt im zweiten Teil des Liedes würde man eh mit dem Abstrich beginnen, und so endet Frau Schmidt eher zufällig, aber korrekt mit dem Abstrich beim Schlusston.

Sie ist mit dem Klangergebnis ihres Spiels nicht zufrieden und zeigt damit, dass sie die Intonation sehr gut beurteilen kann. Frau Feierabend bestärkt sie dadurch, dass sie die Intonation mit Worten beschreibt und sehr differenziert die Aspekte lobt, die gut gelungen sind. Frau Schmidt mag das Lob nicht so recht annehmen und leitet es weiter an ihre Geige, indem sie das Instrument lobt. Sie schmunzelt und schaut die Lehrerin vertrauensvoll lächelnd an, als diese klarstellt, dass es Sigrid Schmidts eigene Leistung war.

Zusammenfassung

Anke Feierabend entscheidet sich im Unterricht mit Sigrid Schmidt immer intuitiv dafür, ihre eigene Strichrichtung an die ihrer Schülerin anzugleichen und die Bogenführung nicht zu thematisieren. Daher können wir hier nicht zeigen, welche Auswirkungen es auf die Schülerin haben würde, wenn die Lehrerin die Strichrichtung korrigieren würde. Die gleiche Bogenbewegung wirkt harmonisch und scheint die Schülerin in ihrem Spiel zu bestärken. Auch die Sitzpositionen von Schülerin und Lehrerin unterstützen dies: Während in einem konventionellen Violinunterricht Lehrkraft und Schüler nebeneinander stehen und beide auf ein Notenpult schauen, hatte Frau Feierabend schon in den ersten Unterrichtsstunden intuitiv entschieden, dass sie stets vis-à-vis mit Frau Schmidt sitzen möchte. So können Lehrerin und Schülerin quasi spiegelbildlich ihre Bewegungen durchführen.

Viele Menschen, die mit demenziell veränderten Personen arbeiten, machen die Erfahrung, dass Demenzerkrankte Bewegungen ihrer Bezugsperson nachahmen und dadurch Orientierung und Sicherheit zu erlangen scheinen. Frau Feierabend nutzt diese Erkenntnis und führt sie weiter, indem sie das (Fehl-)Verhalten ihrer Schülerin validiert und ihr eigenes Verhalten daran anpasst, um eine spiegelbildliche Harmonie aufrechtzuerhalten.