Sigrid Schmidt

Biografie Sigrid Schmidt

Sigrid Schmidt ist ein Pseudonym. Der folgende Text wurde im Juni 2020 von Sigrid Schmidts jüngerer Tochter verfasst.

Kindheit

Mai 1940 in Hamburg geboren – ein Kriegskind

Als Sigrid Schmidt noch ein Kleinkind war, zog die Familie von Hamburg in die Lüneburger Heide. Dank der Angst ihrer Mutter sind sie somit rechtzeitig vor dem Feuersturm aus der Stadt weggezogen. In der Heide lebten sie zu Kriegszeiten zunächst in einer kleinen Dachwohnung, später bezogen sie ein eigenes Haus. Frau Schmidt hat eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder. Der Vater war zunächst im Krieg, später Lehrer der örtlichen Schule. Ihre Mutter hat in späteren Jahren an einer Grundschule im Ort die Bibliothek geführt.

Musikalische Prägung

Musik spielte in ihrem Elternhaus immer eine Rolle. Sie und ihre zwei Jahre ältere Schwester haben schon als Kinder Geigenunterricht erhalten. Sigrid Schmidt hat diesen auch auf dem Gymnasium fortgesetzt, spielte auch etwas Klavier und sang im Chor – sie tat das also offenkundig sehr gern. Ob die Eltern ein Instrument spielten, ist nicht bekannt. Der Bruder lernte keines.

Musikalische Ausbildung

Sigrid Schmidt erhielt Einzelunterricht auf der Geige und zeitweise Geigenstunden gemeinsam mit ihrer Schwester, die bald wieder aufhörte. Wie lange Frau Schmidt Geigenunterricht erhielt, ist nicht genau bekannt. Während ihrer späteren Berufstätigkeit als Lehrerin hatte sie eine Zeit lang Unterricht bei einem Geigenlehrer. Es hat ihr aber wenig Spaß gemacht, im Gegenteil: Es kostete sie Überwindung, zum Unterricht zu gehen. Mit anderen zusammen musiziert hat sie nie. Dennoch bewahrte sie sich die Freude an der Musik und sang jahrelang gerne im Chor der örtlichen Kreismusikschule, mit dem sie auch Konzerte gab.

Ausbildung/Beruf/Berufstätigkeit

Sigrid Schmidt ist studierte Lehrerin und unterrichtete Fächer wie Mathematik, Werken und anderes in einer Gesamtschule. Sie liebte ihren Beruf sehr und hat sich auch über den Unterricht hinaus für ihre Schüler*innen engagiert, um ihnen eine gute Basis für ihr Leben mitzugeben. Dieses Engagement wurde offensichtlich geschätzt: Für ihre Kinder war es völlig normal, dass ihre Mutter beim Einkaufen o. ä. ständig von anderen gegrüßt und angesprochen wurde. Wenn sie dann weitergingen, sagte ihre Mutter meistens: “Ach, das war XY, er/sie war mal in meiner Klasse.”

Eheschließung und Kinder

Sigrid Schmidt kannte ihren zukünftigen Ehemann seit ihrer Kindheit und heiratete ihn Ende der 60er Jahre. Wie schon ihre Eltern bekamen die beiden ebenfalls drei Kinder: einen Jungen und zwei Mädchen. Der Ehemann verstarb wenige Jahre vor Beginn des ReKuTe-Projektes und dem damit verbundenen Geigenunterricht.

Die Bedeutung der Musik in den Familienjahren

Sigrid Schmidts Kinder genossen eine ausgiebige musikalische Förderung – von der Blockflöte bis zur E-Gitarre. Ihren Eltern – vor allem der Mutter – war es sehr wichtig, die Kinder diesbezüglich zu fördern. Die jüngste Tochter hat mit ihrer Mutter als Kind auch viel gesungen, z. B. bei gemeinsamen Spaziergängen. Schallplatten oder das Radio waren eher das Metier des Vaters. Ob Sigrid Schmidt im Schulunterricht mit ihren Schülerinnen und Schülern gesungen hat, ist nicht bekannt.

Erste Anzeichen einer Demenz

Die ersten Anzeichen lassen sich sehr schwer nachverfolgen. Etwa 2014 fiel zum ersten Mal auf, dass etwas nicht stimmte. Die jüngste Tochter lebte damals in Berlin und war nicht so oft und lange vor Ort, um dies ständig beobachten zu können. Zu dieser Zeit “verschwanden” aber immer öfter Dinge, die Orientierung ließ bei Sigrid Schmidt merklich nach, Erzählungen wiederholten sich etc. Sie konnte dies lange kaschieren. Da die Krankheit des Ehemannes sehr im Vordergrund stand, fielen die Beeinträchtigungen von Frau Schmidt zunächst nicht so sehr ins Gewicht.

Die Belastungen durch die Krankheit und den Tod ihres Ehemannes sowie zuvor schon durch die Pflege ihrer eigenen Mutter waren für Sigrid Schmidt enorm, zumal sie nur schwer Hilfe annehmen konnte. Ob dies mit ursächlich für die demenzielle Erkrankung war, kann natürlich niemand mit Bestimmtheit sagen, aber die jahrelange Überlastung hat wohl nicht dazu beigetragen, mental gesund zu bleiben. Nach dem Tod ihres Ehemannes wurde den Kindern erst wirklich das Ausmaß der “Tüddeligkeit” ihrer Mutter bewusst. Die beiden Töchter regten daraufhin eine Testung beim Arzt an.

Diagnose Alzheimer

Vom ersten Besuch beim Hausarzt bis zur letztendlichen Diagnose des Neurologen vergingen Monate, und diverse körperliche, neurologische und psychologische Untersuchungen folgten. Die Diagnose „Senile Demenz vom Alzheimer-Typ“ kam schließlich im Herbst 2016, die Erkrankung befand sich im Anfangsstadium.

Therapie und Krankheitsverlauf

Fortan bekam Sigrid Schmidt Antidementiva verschrieben, die den Verlauf der Erkrankung verlangsamen sollten, und wurde regelmäßig in der Gedächtnissprechstunde der Neurologie untersucht, um den Verlauf der Erkrankung zu verfolgen und entsprechend reagieren zu können. Mit allem anderen waren die erwachsenen Kinder zunächst allein. Die jüngere Tochter hat über intensive Recherchen herausgefunden, was nun zu tun war und welche Fördermöglichkeiten überhaupt bestanden.

Daraufhin wurden schrittweise Leistungen seitens der Pflegeversicherung beantragt (anfangs wurde der Pflegegrad 2 festgestellt). Die jüngere Tochter zog im Frühjahr 2016 dauerhaft zu ihrer Mutter und unterstützte und förderte sie nach Kräften, z. B. durch Ansprache und Interaktion, Einbeziehen in Alltagstätigkeiten, natur- und tiergestützte Förderung (Spaziergänge mit Hund/en, Gärtnern etc.), Gedächtnistraining, Kreativtherapie/Malen… und durch die Übernahme der Dinge, die ihre Mutter nicht mehr selbst erledigen konnte: Haushalt, Autofahren, Termine machen & einhalten. Um Behörden-, Versicherungs- und Geldangelegenheiten kümmerte sich die ältere Tochter, der Sohn übernahm Wartungsaufgaben rund um Haus und Hof.

Häusliche Betreuung

Die häusliche Betreuung fand von Frühjahr 2016 bis August 2019 durch die jüngere Tochter und zeitweise die Unterstützung ausländischer Betreuungskräfte im Haus von Sigrid Schmidt statt.
Ab 2018 besuchte sie dann zusätzlich eine Tagespflege, zunächst 1x wöchentlich, später bis zu 4x pro Woche.

Demenzielle Entwicklung vor Beginn des Violinunterrichtes

Im Sommer 2018 erhielt Sigrid Schmidt den Pflegegrad 3. Bei einer neurologischen Untersuchung im Herbst 2018 lautete die Diagnose „Mäßiggradige Alzheimer-Demenz“, was einer Demenz im mittleren Stadium entspricht. Neben einer allgemeinen Verschlechterung der Symptomatik (leichte Verschiebung im Schlafrhythmus, zunehmende Spracharmut, Inkontinenz…) waren Veränderungen im Verhalten hinzugekommen, die der betreuenden Tochter vor allem seitens der Tagespflegeeinrichtung zugetragen wurden. Zu diesem Zeitpunkt besuchte Sigrid Schmidt die Einrichtung bereits 4x wöchentlich. Trotz der Tatsache, dass sie die Aufenthalte dort sehr liebte und sich immer darauf freute, kam es immer häufiger zu “kratzigem” Verhalten gegenüber Mitarbeitenden und einem anderen Besucher. Zudem zeigte Frau Schmidt in dieser Zeit mehrfach Hinlauftendenzen und war kilometerweit in Richtung Tagespflege gelaufen, bis sie schließlich unterwegs aufgefunden wurde. Dies war eine sehr unruhige und fordernde Zeit für alle Beteiligten. In diesem Zusammenhang erfolgte auf Anraten der teilstationären Pflegeeinrichtung und der Neurologin das Einschleichen eines sehr leichten Neuroleptikums, das ihr half, wieder entspannter und kontaktfreudiger zu sein. Gleichzeitig nahmen allerdings physische Nebenwirkungen zu wie Gangunsicherheit, Bluthochdruck und Gewichtszunahme.

Geigenunterricht im Rahmen des ReKuTe-Projektes

Im September 2018 wurde die betreuende Tochter von Frau Schmidt durch einen Zeitungsbericht auf die Möglichkeit des Violinunterrichts im Rahmen des ReKuTe-Projektes der Universität Vechta aufmerksam. Sie kontaktierte Anke Feierabend, die ersten Vorgespräche fanden statt, und Anfang Dezember begann der eigentliche Unterricht, der mit einer Stunde zur Recherche der Musikbiografie von Sigrid Schmidt startete.

Insgesamt erhielt sie ein Jahr lang Violinunterricht im Rahmen des ReKuTe-Projektes. Jede Unterrichtsstunde wurde komplett per Video aufgezeichnet. Aus diesem Film- und Audiomaterial wurden die Dokumentationen auf dieser Internetseite erarbeitet.
Im häuslichen Umfeld (bei Sigrid Schmidt bzw. Anke Feierabend) fand der Unterricht in der Regel ein Mal wöchentlich statt. Nach dem Umzug in eine Pflegeeinrichtung im August 2019 wurde der Geigenunterricht aufgrund der großen Entfernung zum Heimatort (rund 160 km) nur noch ein Mal monatlich durchgeführt.

Nach Beendigung der einjährigen Unterrichtszeit durch das Projekt sollten in größeren Abständen noch einzelne Violinstunden stattfinden, finanziert durch den TonFolgen e. V. – Verein für therapeutischen Musikunterricht sowie die Familie von Frau Schmidt. Damit sollte zum einen Frau Schmidt weiterhin die beglückende Erfahrung des Geigespielens ermöglicht werden; zum anderen wäre es aufschlussreich, inwieweit sie auch mit fortschreitender Erkrankung über die Geige und die Musik erreichbar bleibt und darüber fähig zum Selbstausdruck. Aufgrund der Corona-Krise konnte der Unterricht jedoch bisher nicht wie geplant fortgesetzt werden.

Weitere gesundheitliche Einschränkungen

Im Mai 2019 erlitt Frau Schmidt eine beidseitige Lungenembolie, was einen stationären Klinikaufenthalt nach sich zog. Der Geigenunterricht musste mehrere Wochen ausgesetzt werden. Erstaunlicherweise setzte Sigrid Schmidt anschließend den Unterricht fort, „als sei nichts gewesen“, während sich in anderen Lebensbereichen weitere kognitive Einbußen zeigten.
Im darauffolgenden Juli musste sie aufgrund eines starken fieberhaften Infektes mit Schüttelfrost erneut notfallmäßig in der Klinik behandelt werden. Beide Erkrankungen wie auch die Klinikaufenthalte überstand Frau Schmidt verhältnismäßig gut, doch es wurde zunehmend deutlich, wie schwierig eine weitere Versorgung zu Hause werden würde. Seit Anfang 2019 hatte sich die betreuende Tochter zwar Unterstützung durch einen osteuropäischen Betreuungsdienst organisiert, doch da die Damen durchschnittlich alle vier Wochen wechselten und sehr unterschiedlich in Qualifikation, Mentalität und Sprachvermögen waren, konnte dies keinen dauerhaften Schutz für ihre Mutter bieten und stellte Mutter und Tochter zudem vor weitere Herausforderungen (ständiges Einarbeiten, Einstellen auf neue Charaktere, etc.).

Umzug in eine Pflegeeinrichtung

Nach umfangreichen Überlegungen der Kinder von Frau Schmidt, ausgiebiger Recherche sowie dem Besuch etlicher Pflegeeinrichtungen auf der Suche nach einem geeigneten Platz für ihre Mutter fiel die Wahl auf eine speziell für demenziell Erkrankte ausgerichtete Einrichtung in rund 160 km Entfernung vom Heimatort. Aufgrund der guten Betreuung dort gab es eine längere Warteliste.
Als im Sommer 2019 die Zusage für einen Platz in der Einrichtung kam, war es ein emotional schwerer Schritt, das Vorhaben in die Tat umzusetzen. Doch im Nachhinein war es der richtige Schritt zur richtigen Zeit. Frau Schmidt lebte sich gut ein, und nach einer angemessenen Eingewöhnungszeit ging es dort mit dem Geigenunterricht weiter, was die demenzkranke Frau mit großer Freude aufnahm.

Auswirkungen der Corona-Krise

Von Mitte März bis Ende Mai durfte Sigrid Schmidt aufgrund der Corona-Krise keinen Besuch mehr erhalten. Als die jüngere Tochter Anfang Juni nach drei Monaten endlich wieder ihre Mutter besuchen durfte, hatte sich deren Zustand binnen dieser Wochen der Isolation deutlich verschlechtert. Insbesondere bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme brauchte sie nun viel Anleitung, beim Ankleiden und der Körperpflege ohnehin. Zudem hatte ihr Sprachvermögen sehr stark nachgelassen.

Dennoch erkannte Frau Schmidt ihre Tochter glücklicherweise auf Anhieb wieder. Die beiden saßen mit großem Abstand an einem Tisch. Der Kontakt war vor allem über Blicke, Mimik und insbesondere gemeinsames Singen möglich, bei dem Frau Schmidt sofort mit einstimmte. Die Anwesenheit ihrer Tochter sowie deren Erzählungen haben sichtlich in ihr gearbeitet und sie sogar zur Äußerung von zwei kurzen Sätzen bewegt. Mit entsprechender Förderung schien also die Sprache noch nicht ganz verschwunden, und auch die Stimmung ließ sich damit spürbar wieder heben.

Von den engagierten Betreuerinnen, die zweifellos ihr Bestes gegeben haben, wurde berichtet, dass Frau Schmidt in den vergangenen Wochen sehr in sich gekehrt war, wenig Antrieb hatte und oft untypisch niedergeschlagen und verschlossen wirkte. Dies ist vermutlich zumindest in Teilen auf die Isolation und den damit fehlenden Austausch aufgrund der Pandemie zurückzuführen. Der Tochter war schon in früheren Zeiten aufgefallen, wie sehr insbesondere Stimmung und Sprachvermögen mit Ansprache, Bewegung und Interaktion zusammenhängen. Natürlich war die strikte Isolation der Einrichtung sinnvoll, um die Bewohnerinnen und Bewohner vor einer Infektion zu schützen. Dennoch zeigt sich, in welchem Maße demenziell Erkrankte von der wohlwollenden Interaktion und niedrigschwelligen Förderung profitieren bzw. wie viel schneller die Krankheit bei deren Fehlen voranschreitet.
Aufgrund der Verschlechterung ihres Zustandes wurde im Mai 2020 Pflegegrad 4 für Frau Schmidt beantragt.

Die Tochter hoffte, dass die Situation bald wieder wie geplant eine musikalische Förderung zulassen würde, so dass ihre Mutter auch durch das Geigenspiel wieder ihren eigenen Körper spüren sowie Freude und Selbstwirksamkeit erleben würde.

Interview: Eindrücke der Tochter während der Unterrichtsphase

Interview mit der jüngeren Tochter von Sigrid Schmidt vom 23.10.19,
basierend auf einem von Anke Feierabend vorbereiteten Fragebogen.
Die Fragen stellte Anke Feierabend.

Kann sich Ihre Mutter während der Woche an den Unterricht erinnern?
a) von alleine?
b) wenn sie daran erinnert/darauf angesprochen wird?
c) in anderen Situationen?

Antworten:
a) Nein
b) Ja. Wenn ich ankündigte: „Heute kommt Frau Feierabend“, wusste meine Mutter meist sofort, wer und was gemeint war und freute sich. Wenn sie nicht sofort reagierte, fügte ich noch „Deine Geigenlehrerin“ hinzu. Dann gab es keinen Zweifel mehr bei ihr.
Nach der letzten Geigenstunde zu Hause am 30.07.19 siedelte meine Mutter in eine Demenzeinrichtung um. Als ich dort einige Wochen später meiner Mutter Ihre Grüße ausrichtete mit dem Zusatz „Deine Geigenlehrerin“, wusste sie sofort, wer gemeint war und freute sich sehr. Dagegen konnte sie sich zu diesem Zeitpunkt an alte Bekannte und Freunde schon nicht mehr erinnern, wenn ihr Grüße von ihnen bestellt wurden.
c) Nein

Erzählt sie manchmal vom Unterricht?
Antwort: Nein

Zeigt sie Vorfreude auf den Unterricht? Wenn ja, wie lange vorher?
Antwort: Bei und nach der Ankündigung des Unterrichts sowie der Ankündigung des Kommens von Anke Feierabend.

Nimmt Ihre Mutter die Geige auch manchmal außerhalb des Unterrichts zur Hand oder zeigt Interesse daran?
Antwort: Nein. Aber nach den Unterrichtsstunden hat sie sich regelmäßig noch ans Klavier gesetzt und einige Stücke auswendig oder vom Blatt gespielt. Vor Unterrichtsbeginn im Dez. 2018 war das schon lange nicht mehr der Fall gewesen. Eindeutig der Geigenunterricht hat sie dazu animiert.

Können Sie anhand des Singens/Summens Ihrer Mutter Rückschlüsse daraus ziehen, was wir im Unterricht gespielt haben?
Antwort:
Ja, meist hat sie noch eines der zuletzt gespielten Lieder gesummt oder gesungen. Dabei war sie sehr entspannt.

Gibt es merklich anderes Verhalten von ihr nach dem Unterricht gegenüber den anderen Wochentagen?
Zum Beispiel
a) Sie ist fröhlicher/entspannter/positiver/… als sonst.
b) Sie hat beim Abendessen größeren Appetit.
c) Sie zeigt ungewöhnliches Verhalten, z. B. Klavierspielen.
d) Sie schläft besser ein/besser durch.
e) Sie ist leichter zu händeln.
f) Ihr Erinnerungsvermögen ist (kurzzeitig) gesteigert.

Antworten:
a) Ja, absolut. Viel fröhlicher, entspannter und entsprechend positiver!
b) Da sie eigentlich fast immer guten Appetit hat(te), ist das schwer zu sagen.
c) siehe Antwort Nr. 5. An anderen Wochentagen als den Unterrichtstagen spielte sie nicht Klavier. Sie gab sogar an den Unterrichtsabenden häufig kleine Konzerte für die jeweilige Betreuungskraft, die meist sehr geduldig und begeistert lauschte.
Außerdem hat meine Mutter oft im Anschluss an den Unterricht ihre Umgebung bewusster wahrgenommen und inspiziert. Auch das war nur nach dem Geigenunterricht der Fall. Z. B. hat sie sich die Bilder an den Wänden sehr genau angeschaut und offensichtlich Freude daran gefunden. An den anderen Tagen nahm sie die Bilder gar nicht wahr.
d) Da sie meist gut schlief, ist das schwer zu sagen. Abends war sie aber meist richtig erschöpft und ging darum häufig früher schlafen als sonst.
e) Ja, eindeutig. Nach dem Unterricht war sie immer viel aktiver und fitter im Kopf. Z. B. nahm sie plötzlich den Straßenverkehr wahr, was sonst schon lange nicht mehr der Fall war, und machte mich auf Dinge darin aufmerksam. Ihre Wahrnehmung war geschärft ebenso wie ihre Kommunikationsfähigkeit. Zu keiner anderen Zeit war es möglich, sich noch so gut mit ihr zu unterhalten. Das ging ausschließlich nach dem Geigenunterricht. Sie war dann auch viel offener, so dass viel mehr Kontakt möglich wurde.
f) Nein. Sie war im Jetzt eindeutig viel aufnahmefähiger, aber nicht darüber hinaus.

Zeigt Ihre Mutter Veränderungen in der Selbstwahrnehmung, die auf ihre Erfolge im Unterricht zurückzuführen sein könnten?
Zum Beispiel
a) Sie wertet sich weniger oft ab.
b) Sie zeigt mehr Mut, etwas auszuprobieren.
Antworten:
a) Das weiß ich nicht so genau, denn ich pflege einen Umgang mit ihr, der möglichst keine Situationen entstehen lässt, in denen sie sich abwerten könnte.
b) Ja, ganz eindeutig; z. B. die Konzerte am Abend und überhaupt das Klavierspielen.

Wie lange halten, sofern vorhanden, die positiven Nachwirkungen des Unterrichts an?
a) nur den Abend
b) darüber hinaus (Wenn ja, wie lange?)?
Antworten:
a) Ja
b) Nein

Gibt es Veränderungen im Gesamtbefinden Ihrer Mutter seit Unterrichtsbeginn, die Sie nach Ihrer Einschätzung auf den Geigenunterricht zurückführen?
Antwort:
Ja, sehr deutlich. Ihr Selbstwertgefühl ist stetig gewachsen ebenso wie ihre Selbstwirksamkeit. Sie hat Vorfreude entwickelt, wenn sie wusste, dass Sie bald kommen. Vorfreude existierte sonst in ihrem Leben nur noch selten. Der Geigenunterricht ist für meine Mutter ein Anker im Alltag, eine Orientierung. Im Unterricht öffnet sie sich völlig – wie sonst nicht, und macht mit Freude mit. Sie sind eine der wichtigsten Bezugspersonen für sie.

Gibt es sonst etwas Berichtenswertes im Zusammenhang mit dem Geigenunterricht Ihrer Mutter?
Antwort:
Meine Mutter stammt aus einer Zeit, wo es nicht nur hieß „Nicht geschimpft ist gelobt genug“, sondern auch „Eigenlob stinkt“. Darum fiel es ihr ihr Leben lang schwer, Lob anzunehmen und sich auch selbst anzuerkennen, wenn sie etwas gut gemacht hatte. Die
Entwicklung im Unterricht, dass sie immer besser Lob annehmen kann, betrachte ich als besonders wertvolle und schöne Entwicklung, die das Selbstwertgefühl meiner Mutter in besonderer Weise stärkt, da sie dadurch erst in der Lage ist, eigene Fortschritte und Gelingendes selbst anzuerkennen.

Ergänzungen von Anke Feierabend

Die Tochter erwähnte, dass die Rolle der Geigenlehrerin als Vertrauensperson sowohl für den Schüler mit Demenz, hier also ihre Mutter, als auch für seine Familie nicht zu unterschätzen sei. Frau Schmidt sei in den Unterrichtsstunden gerade durch das tiefe Vertrauen zu ihrer Geigenlehrerin regelrecht „gewachsen“, habe keine Angst gehabt, etwas falsch zu machen und hatte gleichzeitig den Mut, mit ihrer Lehrerin alles auszuprobieren.
Stets hatte sie die absolute Gewissheit, dass sie niemals bloßgestellt wurde – im Gegenteil: Sie wusste irgendwann intuitiv, dass in diesen Geigenstunden ausschließlich Dinge geschahen, die ihr gut taten. Dieses Wissen vergaß sie auch offensichtlich nicht.

Während Sigrid Schmidt außerhalb des Unterrichtes nur noch sehr eingeschränkt verbal kommunizieren konnte, war es offensichtlich, dass ihre sprachliche Kommunikationsfähigkeit während der Geigenstunden wieder aktiviert wurde. Dort gab Frau Schmidt ungewöhnlich oft adäquate Antworten, sonst eher selten. Ihre verbale Kommunikationsfähigkeit hing sehr stark vom Zeitpunkt, ihrer Tagesform und dem Gegenüber ab, während sie sich im Geigenunterricht unabhängig von der Tageszeit jedes Mal verbal äußerte.

Aggressionen traten bei Frau Schmidt nur sehr selten auf, z. B. wenn es zu Missverständnissen kam oder sie sich zeitlich unter Druck gesetzt fühlte. Dann wurde sie ungehalten, weil sie unfähig war, sich und ihr Bedürfnis verständlich zu machen.

Die Tochter berichtete, dass ihre Mutter nach dem Tod ihres Mannes eine reaktive Depression entwickelt habe und fortan jedes Jahr in der dunklen Jahreszeit depressive Neigungen hatte. Der Geigenunterricht konnte diese Niedergeschlagenheit jedoch aufhellen.