Wille und Ausdauer

Wille und Ausdauer fördern:
Und in dem Schneegebirge

20. Unterrichtsstunde

Das Tippen mit dem Geigenbogen auf den Boden zu Beginn dieses Filmbeispiels könnte ein Hinweis darauf sein, dass Frau Schmidt innerlich unruhig ist und ein Bedürfnis hat. Frau Feierabend beginnt, das Volkslied Und in dem Schneegebirge zu summen, das einige Wochen vorher von Frau Schmidt selbst vorgeschlagen und in das Unterrichtsrepertoire aufgenommen wurde. Frau Schmidt stimmt in das Summen ein, ihre Blicke schweifen zwar noch im Raum umher, aber sie beendet die repetierende Bewegung mit dem Geigenbogen. Die Nahaufnahme zeigt ihre offene, entspannte Mimik, in der die Belustigung über Frau Feierabends Scherz erkennbar ist.

Die Töne zu suchen scheint für die Schülerin heute anstrengend und unbefriedigend, denn sie stöhnt und legt die Geige auf den Schoß. Sie beginnt, ihr Instrument mit den Fingern zu putzen, und schaut ihre Lehrerin nicht an. Auch als sie auf Frau Feierabends Frage antwortet, dass sie das Lied vielleicht nicht mehr spielen möchte, blickt sie nicht auf, sondern putzt weiter die Geige. „Ich weiß es gar nicht. Vielleicht schneiden wir das …“ ist von ihr undeutlich zu hören. Was sie damit meint, bleibt unklar. Ihre Mimik wirkt jetzt eher verschlossen und resigniert, das Streichen mit den Fingern auf den Saiten wird repetierend. Als Frau Feierabend deutlich darum bittet, gibt sich Frau Schmidt einen Ruck und setzt die Geige an.

Und in dem Schneegebirge* in D-Dur

Der Anfang des Liedes will nicht gelingen, und die Lehrerin nimmt sich noch einmal die Zeit, das Lied mit ihrer Schülerin zu summen und eine klingende Vorstellung zu verinnerlichen. Frau Schmidt summt mit und beginnt dann aus eigenem Antrieb, zu ihrem Summen auf der Geige einzelne Töne zu spielen. Da auch Frau Feierabend ihr Summen aufgreift und mit der Geige unisono dazu spielt, entsteht ein zweistimmiger Klang, bei dem Frau Schmidts Töne eine Art Bordun im gleichen Rhythmus des Liedes darstellen. Sie deutet die hohen Töne am Schluss des Liedes nur an, und kann so gemeinsam mit ihrer Lehrerin das Lied zu einem befriedigenden Schluss bringen.

Verbale, klingende, visuelle und körperlich bewegende Vermittlung werden beschrieben im Kapitel "4 Arten der Vermittlung".

Anke Feierabend wählt nun eine visuelle Vermittlung und zeigt ihrer Schülerin, wie sie die hohen Töne auf der nächsten Saite spielt. Frau Schmidt schweigt und scheint zuzuschauen. Sie zieht die Augenbrauen erstaunt hoch, als sei diese Herausforderung zu groß, um sie zu bewältigen. Sie probiert es aber und sucht mit viel Ausdauer die hohen Töne zunächst in höheren Lagen. Obwohl das Mitspielen von Frau Feierabend in den meisten Fällen eine sinnvolle klangliche Orientierung für die Intonation bietet, scheint Frau Schmidt in dieser Situation Zeit zu benötigen, um für sich alleine eine spieltechnische Lösung zu finden. Frau Feierabend beendet ihr Spiel und bestärkt ihre Schülerin mit Worten bei ihren Versuchen. Immer wieder beginnt Frau Schmidt aus eigenem Antrieb, das Lied korrekt zu spielen, setzt an Stellen ein, die sie schaffen will und lehnt sich an das Spiel ihrer Lehrerin an, die den Fluss der Melodie aufrecht erhält.

Diese Unterrichtssequenz, die im Filmbeispiel auf knapp 4 Minuten gekürzt wurde, dauerte in Wirklichkeit fast 10 Minuten, und während dieser ganzen Zeit wirkt Frau Schmidt in sich versunken und spricht nicht. Sie zeigt Ausdauer und einen starken Willen, das Lied korrekt zu beenden, und erst als sie auch die letzte Hürde – den Sprung in die Oktave am Schluss des Liedes – selbstständig mit einem Saitenwechsel auf die nächst höhere Saite bewältigt hat, äußerte sie sich wieder: „Das könnt’ ich eigentlich auch mal machen“ sagt sie fast trotzig und schaut zur Seite, anstatt Blickkontakt mit ihrer Lehrerin aufzunehmen. Frau Schmidt hat einen großen Kampf mit sich selbst ausgetragen und gewonnen.

Zusammenfassung

Auch wenn demenziell erkrankte Menschen mehr und mehr die Fähigkeit verlieren, Worte und Zeichen zu verstehen und Vorhaben in die Tat umzusetzen, können sie trotzdem noch einen starken Willen zeigen und große Ausdauer, ihren Willen durchzusetzen. Wenn die Lehrkraft im Instrumentalunterricht bemerkt, dass die Schülerin oder der Schüler mit sich selbst beschäftigt ist, kann es sinnvoll sein, sich als Lehrperson zurückzunehmen und dem Gegenüber Zeit für selbstständige Übungen einzuräumen. Frau Feierabend lässt ihrer Schülerin die Zeit, ihren eigenen Weg zu finden, und unterstützt intuitiv, wo Frau Schmidt alleine nicht mehr weiterkommt. Die selbstständigen Versuche von Frau Schmidt führen dazu, dass erstmals eine Art zweistimmiges Spiel entsteht. Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung, weil Frau Schmidt bislang stets unisono mit ihrer Lehrerin spielen wollte und sich an ihr orientierte. Dieses Verhalten ist häufig bei demenziell veränderten Menschen zu beobachten: Sie musizieren in Anlehnung an ihre Bezugsperson oder die Gruppenleitung, so dass zum Beispiel das Singen im Kanon nicht möglich ist. Frau Schmidt emanzipiert sich hier ein Stück weit von dieser Abhängigkeit und agiert selbstständig.

Wille und Ausdauer fördern: Die Gedanken sind frei

19. Unterrichtsstunde

Dieses Filmbeispiel ist mit mehr als 6 Minuten das längste, denn es zeigt das Potenzial an Willenskraft und die Ausdauer, das Frau Schmidt beim Einstudieren des Liedes Die Gedanken sind frei entfaltet. In Wirklichkeit dauerte die gesamte Szene fast 15 Minuten, während die Schülerin bei anderen Liedern im Unterricht oft nach ca. 5 Minuten wieder bereit für das nächste war.

Anke Feierabend zögert zunächst, ob sie das Lied im Unterricht mit Sigrid Schmidt spielen soll. Die Melodie hat viele Sprünge und einen großen Tonumfang, so dass einige Saitenwechseln sinnvoll sind. Die Lehrerin möchte vermeiden, dass ihre Schülerin an der Herausforderung scheitert und ihre Defizite spürt, denn das wichtigste Ziel im Unterricht mit demenziell veränderten Menschen ist, dass sie Freude am Musizieren haben, zum Beispiel durch Erfolgserlebnisse. Bei einem anderen Schüler in einer ähnlichen Situation hätte Frau Feierabend Die Gedanken sind frei vielleicht nicht gewählt, aber sie weiß aus dem Biografiegespräch im Vorfeld der Unterrichtsphase, dass es eines der Lieblingslieder von Frau Schmidt ist, so dass sie mit großer Motivation rechnen kann.

Und tatsächlich ist die Schülerin sofort einverstanden, das Lied zu spielen, setzt als Erste die Geige an und beginnt aus eigenem Antrieb, Die Gedanken sind frei zu summen. Sie wartet ab, bis die Lehrerin ebenfalls ansetzt, und bewegt sich dann quasi wie ein Spiegelbild: Sie schaut immer wieder zu Frau Feierabend, spielt wie sie leise einige Saiten an, und hat schließlich für sich die leere D-Saite als Anfangston gewählt. Den Quartsprung zu Beginn des Liedes sucht sie vergeblich und kann das auch gleich zugeben. Frau Feierabend wählt kurzerhand die körperlich bewegende Vermittlung, indem sie Frau Schmidts dritten Finger auf die D-Saite drückt, und Frau Schmidt spielt mit diesem Impuls korrekt weiter.

Die Gedanken sind frei

Sie schaut auf ihr Griffbrett und wirkt sehr konzentriert, während sie Ton für Ton sucht – immer im Hörabgleich mit ihrer Klangvorstellung und mit dem Spiel ihrer Lehrerin. Diese ersten Versuche gelingen ihr, indem sie für die hohen Töne stets in die Lage geht. Für die tieferen Töne ist der Wechsel auf die G-Saite unumgänglich, und sie findet die Töne jeweils nach kurzem Suchen. In der zweiten Hälfte des Liedes hat sie größere Schwierigkeiten mit der Intonation, weil nun häufig der Ton h’ zu spielen ist, den sie mit einem Lagenwechsel realisiert und dann die danach folgenden Töne nicht mehr zufriedenstellend intonieren kann.

„… alles so kompliziert“ ist Frau Schmidts Kommentar, als sie die Geige absetzt, aber sie schmunzelt dabei und scheint Freude an dem Lied und der Herausforderung zu haben.

Im nächsten Schritt nimmt sich Anke Feierabend viel Zeit, den Saitenwechsel für den Ton h’ mit deutlichen Körperbewegungen im Blickfeld von Frau Schmidt vorzumachen. Sie betont dabei, dass auch Frau Schmidts Version mit dem Lagenwechsel eine mögliche Spieltechnik für diese Stelle ist, so dass die Schülerin nicht das Gefühl haben muss, einen Fehler begangen zu haben. Frau Schmidt schaut der visuellen Vermittlung ihrer Lehrerin konzentriert zu, ihre Augen scheinen allerdings eher Blickkontakt zu suchen, als die vorgeführten Fingerpositionen anzuschauen. Sie geht in dem Lied auf und summt mit, als Frau Feierabend es noch einmal komplett vorspielt. Vielleicht ist das ausführliche Vorspielen eines Liedes bei demenziell veränderten Schülerinnen und Schülern noch wichtiger als bei gesunden. Sie haben dadurch die Möglichkeit, die Klangvorstellung zu festigen und das professionelle Spiel des Gegenübers zu genießen – besonders wenn es ein Lieblingslied ist.

Frau Schmidt streicht beim Zuhören und Summen mit der Hand über die Saiten ihrer Geige und bewegt ihren Oberkörper zur Musik. Als Frau Feierabend den Schlusston mit einem Doppelgriff ausschmückt, erkennt sie dies sofort und bringt ihr Erstaunen zum Ausdruck. Schülerin und Lehrerin lachen gemeinsam in gelöster Atmosphäre.

Beim nächsten gemeinsamen Spiel des Liedes verfolgt Frau Schmidt dann tatsächlich den Plan, den Ton h’ auf der A-Saite mit dem ersten Finger zu spielen. Das ist bemerkenswert, weil bei demenziell veränderten Menschen ein absichtsvolles Handeln nach einem innerlich präsenten Plan oft nicht mehr möglich ist. Vielleicht resultiert es aber auch aus dem ausführlichen visuell präsentierten Vorspiel, und Frau Schmidt versucht die Bewegung ihrer Lehrerin nachzuahmen. In der Nahaufnahme sind ihre geschürzten Lippen gut zu sehen, die ihre Entschlossenheit zeigen.

Auch im zweiten Teil des Liedes verzichtet Frau Schmidt nun darauf, den Ton h’ auf der D-Saite in der zweiten Lage zu spielen. Frau Feierabend greift sofort und buchstäblich ein, indem sie Frau Schmidts Zeigefinger in die korrekte Position drückt, bevor diese bei der Suche scheitert und die Klangvorstellung des Liedes womöglich verliert. In diesem Fall ist die Methode allerdings nicht von Erfolg gekrönt: Frau Schmidt sucht den Ton wieder in der 2. Lage, spielt dadurch unsauber und bricht ab. Sie kann aber über ihr Unvermögen lachen und scherzt darüber, bevor sie aus eigenem Antrieb wieder beginnt, das Lied einzuüben. Da sie nicht auf ihre Lehrerin wartet, sondern leise für sich zu spielen beginnt, gibt die Lehrerin ihr die Zeit, in ihrem eigenen Tempo einen eigenen Weg zu finden, und spielt erst wieder mit, als das Klangergebnis unbefriedigend wird. Frau Schmidt verliert die Motivation nicht, sondern will immer wieder spielen, denn sie muss „üben, üben, üben!“

Als sie an einen Punkt kommt, wo die Frustration überwiegt und sie abbricht und zur Seite schaut, macht Frau Feierabend ihr bewusst, wie schwer das Lied mit den verschiedenen Saitenwechseln ist. Frau Schmidt ist sich jetzt ihrer kognitiven Defizite bewusst und kann gegenüber der vertrauten Lehrerin zugeben, dass sie die Anforderungen für ihren Kopf zu schwer sind. Frau Feierabend macht ihr Mut und überzeugt sie davon, dass sie als Lehrerin fest daran glaubt, dass die Schülerin es schaffen wird. Ihr unbeschwerter Tonfall bringt zum Ausdruck, dass Fehler und Schwierigkeiten nicht schlimm, sondern erlaubt sind.

Um von den negativen Erfahrungen bei Die Gedanken sind frei abzulenken, möchte Anke Feierabend das Einüben des Liedes nun beenden und zu einem anderen übergehen, doch Sigrid Schmidt behält die Geige am Hals und ist offenbar immer noch motiviert und gewillt, an dem Lied weiter zu arbeiten. Dieses Bedürfnis äußert sich zunächst darin, dass sie wiederholt mit dem Bogen auf den Boden tippt, und dann spricht sie ihren Wunsch auch explizit aus. Frau Feierabend überlässt ihrer erwachsenen Schülerin die Entscheidung, wie der Unterricht weitergehen soll, und belohnt ihre Ausdauer und ihren Ehrgeiz mit zustimmenden Worten.

Die kleinen Lernerfolge aus den vorherigen Versuchen wiederholt Frau Schmidt jetzt nicht, sondern spielt wieder den Ton h’ in der zweiten Lage, statt einen Saitenwechsel zu probieren. Frau Feierabend spricht dies nicht an, sondern überlässt es ihrer Schülerin, welche Spieltechnik sie aus dem Körpergedächtnis heraus spontan durchführt. Auch die tiefen Töne auf der G-Saite gelingen nicht, aber Frau Schmidt behält ihre gute Laune und hat zunehmend Freude an ihren eigenen Scherzen, weil Frau Feierabend sie stets wohlwollend mitspielt. Aber nach jedem Scherz beginnt Frau Schmidt bald wieder selbstständig und mit starkem Willen, die Schwierigkeiten des Liedes zu bewältigen. Vielleicht möchte sie auch das Gefühl, das das Lied in ihr auslöst, aufrechterhalten. Schließlich geht es im Liedtext um Eigenständigkeit und freie Entscheidungen – also um etwas, das demenziell veränderte Menschen im Alltag zunehmend verlieren.

Frau Feierabend lässt ihr wieder die Zeit, für sich alleine die Töne des Liedes zu suchen und zu finden, und Frau Schmidt zeigt deutlich ihren Stolz. Als ihr auch die Schlusstöne des Liedes recht gut intoniert gelingen, zeigt sie sich zufrieden mit ihrer Leistung. Dabei ist es jetzt egal, ob weite Passagen unsauber und mit unpassender Spieltechnik realisiert wurden – Frau Feierabend bestätigt das Erfolgsgefühl ihrer Schülerin mit ehrlicher Freude.

Sigrid Schmidt hat in dieser Unterrichtssequenz einen starken Ehrgeiz entwickelt und fasst einen Entschluss: Eben weil das Lied Die Gedanken sind frei so schwer zu spielen ist, will sie es öfter üben. Und auch jetzt noch einmal – sogar mit geglücktem Saitenwechsel.

Zusammenfassung

Diese Unterrichtssequenz zeigt deutlich, wie wichtig es ist, Lieder zu wählen und zu wagen, die für den demenziell veränderten Schüler oder die Schülerin persönlich bedeutsam sind. Sie können dann mitunter eine Willenskraft und eine Ausdauer entwickeln, die sie sogar unmöglich geglaubte Schwierigkeiten bewältigen lässt.

Frau Schmidt scheint unbewusst eigene Lern-Strategien zu verfolgen, zum Beispiel indem sie wie ein Spiegelbild ihrer Lehrerin agiert. Dieses Verhalten, das viele Demenzerkrankte in der Kommunikation mit Vertrauenspersonen zeigen, scheint hier der Schlüssel zum Erfolg zu sein.

Frau Feierabend setzt in dieser Stunde spontan ein Methodik ein, die in anderen Situationen vielleicht übergriffig wäre: Sie greift in das Spiel ihrer Schülerin ein und bewegt deren Finger an die richtige Position, bevor der Fehler passiert, so dass die Melodieführung nicht unterbrochen wird und das Spiel womöglich in einer Sackgasse landet. Außerdem lässt sie ihre Schülerin wiederholt alleine spielen, damit sie eigene Strategien erproben kann.

Und nicht zuletzt unterstützt die Stimmung, die im Lied Die Gedanken sind frei zum Ausdruck kommt, den Willen und die Eigenständigkeit von Frau Schmidt, denn es ist eben kein Kinderlied, sondern ein sehr „erwachsenes“ Lied.