Aktivierung des Körpergedächtnisses

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Aktivierung des Körpergedächtnisses bei Wenn ich ein Vöglein wär’

10. Unterrichtsstunde

In der 10. Unterrichtsstunde führt Anke Feierabend das Lied Wenn ich ein Vöglein wär’ ein, ein deutsches Kinderlied, das in der Generation 60+ sehr bekannt ist. In der Tonart D-Dur kann das Lied auf der Geige fast vollständig auf der D-Saite gespielt werden und beinhaltet nur einen Wechsel auf die tiefere Saite für den Ton cis’, der mit dem 3. Finger in der hohen Position gespielt werden muss.

Wenn ich ein Vöglein wär’

Frau Feierabend spielt das Lied zunächst in Gänze vor. Frau Schmidt ist schon spielbereit mit der Geige am Kinn, nickt mit dem Kopf, weil sie es erkannt hat, und summt mit. Bei ihrem ersten Versuch, das Lied mit ihrer Lehrerin mitzuspielen, ist jeder Ton ein Suchen. Sie schaut nur auf ihr Griffbrett und korrigiert die Töne in der Intonation nach Gehör. Auch der entscheidende Saitenübergang gelingt nicht, obwohl ihre Finger schon die richtige Bewegung andeuten. Frau Schmidt bricht ab und schmunzelt. Sie nimmt es sich selbst nicht übel, sondern hat Freude am Ausprobieren.

Nun erklärt Frau Feierabend den schwierigen Saitenwechsel und zeigt deutlich ihre Körperbewegung dabei. Diese Methode zielt darauf, dass die Schülerin aus der nachgemachten Bewegung heraus den Saitenwechsel besser realisieren kann. Frau Schmidt hat diese Art des Saitenwechsels in ihrem Leben vermutlich viele Male gespielt, so dass er in ihrem Körpergedächtnis fest verankert ist, auch wenn sie eine wörtliche Erklärung vielleicht nicht versteht und nicht umsetzen kann. Für die Lehrkraft ist es wichtig, einen Weg zu finden, wie dieses Körpergedächtnis aktiviert werden kann, denn dann erfolgen die Bewegungen quasi automatisch.

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Einige Musikgeragoginnen und Musikgeragogen berichten, dass demenziell veränderte Menschen eine vorgeführte Bewegung wie ein Spiegelbild nachahmen. Dieses gleichzeitige spiegelbildliche Nachahmen einer Körperbewegung kann eine Brücke sein, über die das Körpergedächtnis des Demenzerkrankten aktiviert wird.

Nachdem Frau Schmidt die Körperbewegung nachgeahmt und den Saitenwechsel erstmals gespielt hat, lobt Frau Feierabend sie und hebt den schweren Übergang auf die G-Saite hervor. Aber Frau Schmidt möchte keine weiteren erklärenden Worte zum Saitenübergang, sondern „gleich noch mal!“. Vielleicht spürt sie, dass die Bewegung fast automatisch von ihren Fingern durchgeführt wurde und möchte nun dieses Gefühl durch Wiederholung festigen.

Auffallend ist, dass weder Schülerin noch Lehrerin die hohe Position des 3. Fingers ansprechen. Frau Schmidt greift sie quasi automatisch korrekt (Körpergedächtnis!), weil sie das Lied kennt und nach Gehör intoniert. Eine Tonleiterübung zur hohen Position des 3. Fingers ist nicht nötig und würde möglicherweise nur irritieren.

11. Unterrichtsstunde

Auch in der nächsten Unterrichtsstunde beschreibt Frau Feierabend wieder den Handlungsablauf beim Saitenwechsel und zeigt deutlich ihre Körperbewegung dabei. Sie erwähnt jetzt auch die Position des 3. Fingers („hoch“), doch Frau Schmidt reagiert nicht auf die Worte. Sie behält die Geige am Kinn und scheint die Fingerbewegung ihrer Lehrerin auf dem Griffbrett zu imitieren, während Frau Feierabend sie vormacht. Jetzt klappt der Saitenwechsel schon etwas besser als in der Stunde zuvor, obwohl sie viele Töne suchen muss. Frau Feierabend lobt sie dafür, doch Frau Schmidt bleibt spielbereit und möchte wieder gleich weitermachen. Ihr Körpergedächtnis wird immer stärker aktiviert.

13. Unterrichtsstunde

Zur 13. Unterrichtsstunde gibt es eine Nahaufnahme von Frau Schmidts Gesicht. Darin ist zu sehen, dass sie nicht ununterbrochen auf ihr Griffbrett schaut, sondern die Augen zeitweise davon löst. Der Saitenwechsel klappt jetzt ohne Probleme, vielleicht weil Frau Schmidt ihre Finger nicht mehr ständig kontrolliert, sondern sie einfach laufen lässt. Ihr Körpergedächtnis scheint jetzt aktiviert, und sie kann ihre Zufriedenheit über das gelungene Spiel mit Worten zum Ausdruck bringen.

Sie übernimmt die Führung und setzt als Erste die Geige wieder an, als wolle sie so schnell wie möglich weitermachen – vielleicht in der unbewussten, intuitiven Absicht, ihr Körpergedächtnis aktiv zu halten. Ihre Tochter ist jetzt anwesend, und im Anschluss an das gelungene Spiel schaut sie stolz und zufrieden – fast kindlich freudig – zu der Zuhörerin außerhalb des Bildes, von der „Super!“ zu hören ist. Auch Frau Feierabend bezieht die Tochter in die Szene mit ein und lobt die Fortschritte der Mutter mit „Voll gut!“ Im weiteren Verlauf des Gesprächs spricht sie in Worten aus, was gerade passiert ist: „Die Finger wissen inzwischen, dass sie rüber müssen“.

Zusammenfassung

Frau Feierabend spielt das Lied zunächst vor, damit Frau Schmidt eine sichere Klangvorstellung bekommt. Beim ersten gemeinsamen Spiel hält sie jeden Ton so lange, bis die Schülerin ihn gefunden und sauber intoniert hat.

Neben dieser klanglichen Vermittlung (siehe: 4 Arten der Vermittlung) spielt die visuelle eine besondere Rolle: Das Vorführen der Körperbewegung beim Saitenwechsel animiert Frau Schmidt, die Bewegung zu imitieren. Dadurch scheint ihr Körpergedächtnis aktiviert zu werden, und Frau Schmidt kann sich mehr und mehr darauf verlassen, dass ihre Finger automatisch die richtigen Positionen finden.

Die hohe Position des 3. Fingers spricht Frau Feierabend zunächst nicht an und macht keine Übung dazu, weil ein solch abstrakt kognitives Vorgehen die Schülerin eher verunsichern als ihr nützen würde.

Sie bezieht die anwesenden Zuschauer mit in die Unterrichtssituation ein, weil Frau Schmidt dadurch motiviert wird. Das Lob ihrer Tochter stärkt ihr Selbstvertrauen.

Aktivierung des Körpergedächtnisses bei Großer Gott, wir loben dich

Auch das ökumenische Kirchenlied Großer Gott, wir loben dich ist für eine Schülerin mit demenziellen Einschränkungen, aber gleichzeitig vorhandenen spieltechnischen Vorerfahrungen, realisierbar. Ebenso wie Kinderlieder und Volkslieder ist es bei den meisten alten Menschen bekannt und beliebt und weckt positive Erinnerungen an kirchliche Feierlichkeiten und religiöse Gemeinschaft.

Anke Feierabend wählt das Lied in der Tonart F-Dur, so wie es auch im katholischen und evangelischen Gesangbuch abgedruckt ist. Die einzige Abweichung dazu sind die zwei gebundenen Noten bei der Textstelle „warst“, wo in den Gesangbüchern statt der zwei Viertelnoten eine Halbe Note b’ notiert ist. In der Region, wo Lehrerin und Schülerin leben, scheint diese Version gebräuchlich.

Großer Gott, wir loben dich

12. Unterrichtsstunde

Schon in der 11. Unterrichtsstunde hatte Frau Feierabend das Lied Großer Gott, wir loben dich mit Frau Schmidt ausprobiert. Als sie in der 12. Stunde darauf verweist, kann sich Frau Schmidt nicht daran erinnern. Frau Feierabend beginnt zu summen und Frau Schmidt summt das Lied mit, nickt wissend und setzt die Geige an, als ihre Lehrerin das tut. Dies ist wieder ein Beispiel für spiegelbildliche Handlungen, die demenziell veränderte Menschen oft in Situationen durchführen, in denen sie von einer vertrauten Bezugsperson angeleitet werden. Eine gesunde erwachsene Schülerin hätte vielleicht zunächst eine Anweisung abgewartet, mit welchem Ton die Lehrerin beginnen will.

Als Anke Feierabend ihr Ausprobieren beendet hat, zeigt sie Frau Schmidt die D-Saite und spielt zunächst die ersten drei Töne der Moll-Tonleiter auf der D-Saite, die Frau Schmidt sofort wie selbstverständlich mitspielt.

Diese Tonleiterübung ist notwendig, damit Frau Schmidt die richtige Intonation für den 2. Finger in der tiefen Position findet, denn dies ist der Anfangston für das Lied in F-Dur. Frau Feierabend erwähnt nicht, dass der 2. Finger tief gespielt werden soll, oder dass sie eine Moll-Tonleiter spielen, sondern sie spielt die Töne, und Frau Schmidt spielt spiegelbildlich korrekt mit.

Die ersten Töne des Liedes, die nur auf der D-Saite zu spielen sind, findet Frau Schmidt im Zusammenspiel mit ihrer Lehrerin automatisch, ihre Finger scheinen die Töne von Melodien ohne Sprünge unbewusst richtig zu greifen. Erst beim Saitenwechsel sucht sie vergeblich die Töne und scherzt darüber, dass sie sie nicht findet. Das ist ein Zeichen für ihr inzwischen gestärktes Selbstbewusstsein und die vertrauensvolle und wertschätzende Unterrichtsatmosphäre, denn sie nimmt sich ihre Defizite selbst nicht übel, sondern kann darüber lachen und will lernen.

Frau Feierabend zielt darauf ab, dass Frau Schmidts Körpergedächtnis aktiviert wird und sie ohne bewusste Steuerung die Töne aus dem Köper heraus von selbst findet. Deshalb lässt sie ohne große Erklärungen das Lied von neuem spielen, und jetzt spielt Frau Schmidt automatisch die leere A-Saite und findet die weiteren Töne nach langem Suchen, obwohl die Lehrerin inzwischen den Ton nicht mehr vorgibt. Das macht ihr offensichtlich Spaß, denn sie lacht und lässt sich von ihrer Lehrerin loben. Sie redet mit Frau Feierabend auf Augenhöhe, als sie ihre Einstellung zu dieser spieltechnischen Herausforderung beschreibt: „Übung macht den Meister“. Frau Feierabend thematisiert nicht die spieltechnische Feinheit, dass der Ton a’ besser auf der D-Saite gegriffen werden sollte, denn das würde Frau Schmidt vielleicht nicht verstehen und sie nur verunsichern.

Beim nächsten Durchgang hält Frau Feierabend den Anfangston und Frau Schmidt sucht ihn vergeblich. In der Nahaufnahme ist zu sehen, wie sie ihre Finger orientierungslos auf der Saite bewegt. Erst als Frau Feierabend noch einmal die Tonleiterübung vorspielt, steigt Frau Schmidt sofort in die Übung ein und findet schnell die Orientierung wieder, um den Anfangston von Großer Gott, wir loben dich korrekt spielen zu können.

Auch bei diesem Lied versucht Frau Feierabend ihrer Schülerin den Saitenwechsel mit der Methode “verbale Beschreibung” samt visueller Vorführung zu vermitteln. Frau Schmidt reagiert auf die erklärenden Worte mit einem selbstbewussten Hinweis auf ihre Defizite: „Das kann ich nicht im Kopf“. Anke Feierabend bricht daraufhin ihre Erläuterung ab, reagiert mit Nähe und Berührung und will ihrer Schülerin die Zuversicht vermitteln, dass sie auf ihren Körper vertrauen kann und dass ihre Finger die Töne finden werden. Frau Schmidt will diese Vorstellung zunächst als lächerlich abtun, aber dann lässt sie sich doch darauf ein und schließt sich der Zuversicht ihrer Lehrerin an, indem sie bestätigt: „Ja, die finden das“.

Im weiteren Verlauf der Stunde sucht Frau Schmidt noch mehrmals mit großer Ausdauer die richtigen Töne beim Saitenwechsel und findet sie mal durch einen Saitenwechsel, mal in höheren Lagen.

13. Unterrichtsstunde

Großer Gott, wir loben dich erweist sich für Frau Schmidt schwieriger als das Kinderlied Wenn ich ein Vöglein wär’, weil der Saitenwechsel nicht nur einmal, sondern mehrmals erfolgen muss und nicht nur Tonschritte, sondern auch ein Quintsprung zu spielen ist.

Auch in der 13. Unterrichtsstunde beginnt Anke Feierabend wieder damit, das Lied vorzuspielen, denn in Frau Schmidts Erleben ist es wahrscheinlich in jeder Unterrichtsstunde wieder wie das erste Mal! Sie summt das Lied mit und fragt verständnislos nach, als sie die verbale Anweisung bekommt, „mit dem 2. Finger auf der D-Saite“ zu beginnen. Statt weiterer Worte wählt Frau Feierabend sofort die Tonleiterübung, um die tiefe Position des 2. Fingers und damit den Anfangston rein intoniert zu gewährleisten – ohne dies mit Worten zu thematisieren.

Als Frau Schmidt nun souverän aus ihrem Körpergedächtnis heraus den Anfang des Liedes korrekt spielt, realisiert sie den Ton a’ mit dem 4. Finger auf der D-Saite statt auf der leeren A-Saite, und der Saitenwechsel klappt mit kleiner Verzögerung, aber ohne Fehlversuche.

Bei der Wiederholung wechselt Frau Schmidt dann nicht die Saite, sondern spielt den hohen Ton c’’ mit dem 4. Finger in höherer Lage auf der D-Saite. Frau Feierabend unterbricht und korrigiert nicht, denn Frau Schmidt scheint sich in ihrem Spiel so sicher zu fühlen, dass sie jetzt sogar den Schlussteil des Liedes spielt – in höheren Lagen auf der D-Saite, aber einigermaßen intoniert und mit musikalischer Agogik bis zum Schluss. Auch hierin wird deutlich, dass der Körper ohne strategische Steuerung durch das Bewusstsein die Führung übernommen hat. Frau Schmidt setzt ab und zeigt mit ihrer Selbstkritik, dass sie die unsaubere Intonation erkannt hat und durch Übung beheben will. Frau Feierabend lobt sie dafür, dass sie den Schluss des Liedes in der hohen Lage realisiert hat.

Lehrkräfte, die demenziell veränderte Menschen unterrichten, müssen damit rechnen, dass ein zwischenzeitlicher Lernerfolg durch die Aktivierung des Körpergedächtnisses im weiteren Verlauf des Unterrichts nicht wieder erreicht wird. Auch Frau Schmidt wiederholt den einmal gelungenen Saitenwechsel nicht. Frau Feierabend wechselt die Methode und versucht mit erklärenden Worten und durch körperliches Bewegen der Finger den zuvor durchgeführten Handlungsablauf wieder körperlich zu erinnern. Als sie spürt, dass eine strategische Planung des Handlungsablaufs für Frau Schmidt nicht möglich ist und Worte und Vorführungen sie nur irritieren, bricht sie sofort ab und ermutigt die Schülerin wieder, auf ihren Körper zu vertrauen und einfach loszuspielen. Das möchte Frau Schmidt auch, denn sie setzt als Erste an und will das Lied spielen. Immerhin scheint sie doch einiges von den verbalen und körperlich bewegenden Vermittlungsversuchen verinnerlicht zu haben, denn sie wechselt jetzt nicht in die Lagen, sondern sucht mit dem 2. Finger auf der A-Saite den richtigen Ton.

Insgesamt ist das Lied Großer Gott, wir loben dich ca. 10 Minuten lang Gegenstand des Unterrichts. In zahlreichen Wiederholungen zeigt Frau Schmidt große Ausdauer und hohe Motivation, das Lied korrekt zu spielen. Für Frau Feierabend ist es nicht wichtig, dass Frau Schmidt spieltechnische Fortschritte macht, sondern ihr Ziel ist es, dass die Schülerin Freude am Musizieren zeigt und Erfolgserlebnisse hat, die sie beglücken. Dass dies am Ende auch Versionen des Liedes auf einer Saite in hohen Lagen sein können, spielt dabei keine Rolle.

In der 17. Unterrichtsstunde gelingt der Saitenwechsel aus dem Körpergedächtnis heraus ohne Probleme, und Sigrid Schmidt ist darüber glücklich und zufrieden. Ein Filmbeispiel dazu ist zu finden unter der Überschrift “Flow-Erlebnisse“, denn Frau Schmidt vergisst beim Spielen Zeit und Raum und ist ganz in sich versunken.

Zusammenfassung

Frau Feierabend summt das Lied mit ihrer Schülerin und spielt es vor, damit Frau Schmidt eine sichere Klangvorstellung bekommt.

Die tiefe Position des 2. Fingers auf der D-Saite und des 1. Fingers auf der A-Saite spricht Frau Feierabend nicht an. Sie setzt allein auf das Zusammenspiel von Klangvorstellung und Körpergedächtnis.

Neben dieser klanglichen Vermittlung spielt die visuelle und körperlich bewegende Vermittlung (siehe: 4 Arten der Vermittlung) eine besondere Rolle: Frau Schmidt versucht anschließend den Saitenwechsel so zu spielen, wie ihre Lehrerin ihre Finger bewegt hat.

Ziel ist es, das Lied zu einem für die Schülerin positiv empfundenen Ende zu führen, das sie zufrieden und stolz sein lässt.

Aktivierung des Körpergedächtnisses bei Kommt ein Vogel geflogen

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14. Unterrichtsstunde

Das Kinderlied Kommt ein Vogel geflogen beinhaltet einige Sprünge und einen Saitenwechsel, die einem demenziell veränderten Menschen aus dem Körpergedächtnis heraus quasi automatisch gelingen können.   

Frau Schmidt kennt das Lied gut und hat es mit ihrer Lehrerin schon in der 11. und 13. Unterrichtsstunde gespielt, wobei jeweils die Saitenwechsel Schwierigkeiten bereiteten.

In der 14. Stunde kündigt Anke Feierabend an, dass sie nun das Lied Kommt ein Vogel geflogen spielen werden. Sie schlägt vor, dass sie nun mit dem 1. Finger auf der D-Saite beginnen und spielt den Anfang vor.

Kommt ein Vogel geflogen

In den früheren Stunden hatte sie das Lied einen Ton höher in D-Dur begonnen, so dass sowohl der höchste als auch der tiefste Ton auf der jeweils benachbarten Saite gespielt werden musste.

Bei der jetzt gewählten Tonart C-Dur steht nur ein Saitenwechsel auf die G-Saite an. Demenziell veränderte Schülerinnen und Schüler mit langjähriger Erfahrung auf der Geige sind bei einem anstehenden Wechsel auf die nächst höhere Saite vielleicht eher geneigt, auf derselben Saite in hohen Lagen weiterzuspielen, so wie Frau Schmidt es aus ihrem Körpergedächtnis heraus oft praktiziert. Dann kann es sinnvoll sein, das Lied in einer Tonart zu wählen, in der nur ein Wechsel auf die nächst tiefere Saite notwendig ist, denn dabei bietet sich das Lagenspiel nicht an.

Nachdem Frau Schmidt das kurze Vorspiel ihrer Lehrerin gehört hat, setzt sie sofort an und spielt Kommt ein Vogel geflogen von vorne gemeinsam mit Frau Feierabend. Sie korrigiert schnell nach Gehör den 2. Finger in die tiefe Position, ohne dass das Thema angesprochen werden muss. Während die Terzsprünge automatisch von ihren Fingern aus dem Körpergedächtnis gespielt werden, muss Frau Schmidt bei dem größten Sprung des Liedes zum Ton a’ einige Töne ausprobieren, bis sie denjenigen gefunden hat, der ihrer Klangvorstellung entspricht. Der Wechsel auf die G-Saite wird von ihr wie selbstverständlich bewältigt, sodass Frau Feierabend ehrlich erstaunt reagiert. Aber anstatt dieses – wie zufällig wirkende Ereignis – ausführlich zu loben, leitet sie sofort eine Wiederholung an, um das Körpergedächtnis aktiv zu halten und zu festigen. Auch jetzt gelingt der Sprung zum hohen Ton nur nach einigen Fehlversuchen, aber bei den tiefen Tönen macht Frau Schmidt automatisch die Körperbewegung für den Saitenwechsel und spielt den Ton nach kurzem Suchen mit den korrekten Fingern. Sie muss dabei zweimal mit dem 2. Finger greifen: Einmal tief für den Ton f’ auf der A-Saite, einmal hoch für den Ton h auf der G-Saite. Sie korrigiert die Intonation selbstständig aus dem Gefühl, ohne dass diese Spieltechnik von Lehrerin oder Schülerin angesprochen wird.

Nach erfolgreichem Spiel setzt Frau Schmidt ab und bläst die Backen auf als Zeichen der großen Anstrengung, die es sie gekostet hat. Auf das differenzierte Lob ihrer Lehrerin zum Übergang auf die G-Saite reagiert sie verhalten, aber durchaus erleichtert und zufrieden und antwortet „Muss ja auch mal sein.“.

Bei diesem Unterrichtsbeispiel ist es vielleicht wichtig zu wissen, dass Frau Feierabend das Lied Kommt ein Vogel geflogen direkt im Anschluss an Wenn ich ein Vöglein wär’ gewählt hat. Wie vieles im Unterricht mit demenziell veränderten Menschen geschah die Auswahl spontan und intuitiv und zeigt doch vielleicht eine unbewusste Strategie: Wenn ich ein Vöglein wär’ beinhaltet nämlich ebenfalls einen Wechsel auf die nächsttiefere Saite für einen einzigen Ton. Mit dem anschließenden Lied Kommt ein Vogel geflogen in der gewählten Tonart baut Frau Feierabend also auf das vorher Gelernte auf und lässt Frau Schmidt dieselbe Körperbewegung für weitere Töne auf der G-Saite durchführen.

Zusammenfassung

Frau Feierabend wählt das bekannte Lied in einer Tonart, in der nur ein Saitenwechsel notwendig ist, und zwar auf die tiefere Saite, denn dies scheint für ihre Schülerin eher aus dem Körpergedächtnis heraus realisierbar zu sein als ein zusätzlicher Wechsel auf die höhere Saite.

Sie lässt nacheinander zwei Lieder spielen, die ähnliche Wechsel auf die tiefe Saite haben. Dabei nimmt sie zunächst das Lied Wenn ich ein Vöglein wär’ mit dem Wechsel für einen einzigen Ton und danach Kommt ein Vogel geflogen mit dem schwierigeren Wechsel für mehrere Töne. Dadurch kann sie auf bereits eingeübte Körperbewegungen aufbauen.