Neue Formen des Musizierens

Neue Formen des Musizierens

Auch wenn das gemeinsame Musizieren im Rahmen eines validierenden Instrumentalunterrichts die geistigen und körperlichen Fähigkeiten einer an Demenz erkrankten Person stärken und das Fortschreiten der Krankheit vielleicht verlangsamen kann, so wird es sie doch nicht aufhalten. Irgendwann wird auch für Frau Schmidt das Geigenspiel nicht mehr in der Art möglich sein, wie es die hier präsentierten Unterrichtsstunden zeigen. Das muss aber nicht bedeuten, dass das Musizieren mit all seinen beglückenden und trainierenden Wirkungen in Gänze aufgegeben werden muss, sondern Lernende und Lehrende können neue Formen des Musizierens finden, die nach und nach das Instrumentalspiel ersetzen. Das kann das Singen oder Summen sein, denn die Stimme als körpereigenes Instrument bringt oft noch sehr lange vertraute und geliebte Lieder zum Klingen. Das können aber auch Vereinfachungen oder Ersatzhandlungen sein oder Bewegungen zur Musik. Ideal ist es, wenn eine sensible Lehrkraft wahrnehmen kann, wie der Schüler oder die Schülerin eigene Wege findet, neue Formen des Musizierens zu entwickeln. Denn bei neuen Formen, die quasi von selbst aus der Person heraus entstehen, können wir sicher sein, dass sie zu ihr passen und ihr gut tun.

1. Vereinfachungen – Heut kommt der Hans zu mir

22. Unterrichtsstunde

Während Sigrid Schmidt von Anfang an im Unterricht als Alternative zum Geigenspiel singt und summt, zeigt sie in der 22. Stunde eine neue spieltechnische Abwandlung, die zum Stichwort Vereinfachungen gezählt werden kann.

Anke Feierabend führt den Kanon Heut kommt der Hans zu mir in der 22. Unterrichtsstunde neu ein, indem sie Frau Schmidt zunächst fragt, ob sie das Lied kenne, wobei sie den Titel nennt. Frau Schmidt sagt offen, dass sie das Lied vergessen habe, Frau Feierabend singt kurz den Anfang und spielt ein Stück auf der Geige. Als sie die Geige ansetzt, macht Frau Schmidt die Bewegung sofort wie ein Spiegelbild mit und beginnt mit dem Testton ihrer Lehrerin das Lied zu summen. Sie ist offenbar so motiviert, dass sie versucht mitzuspielen, als Frau Feierabend das Lied eigentlich noch für sich ausprobieren will. Teilweise gelingt das sogar, teilweise ersetzt sie das Spielen durch Summen und findet spontan die richtigen Töne für den Schluss. Darüber schmunzelt sie erfreut, nimmt das Lob ihrer Lehrerin an und will sofort wieder losspielen, als sie dazu aufgefordert wird.

Heut kommt der Hans zu mir

Obwohl die ersten drei Viertelnoten wie ein Auftakt funktionieren und daher mit dem Aufstrich gespielt werden würden, beginnt Anke Feierabend in dieser Unterrichtssituation immer mit dem Abstrich, weil sie weiß, dass ihre Schülerin das automatisch tut und sie mit ihr in spiegelbildlichen Bewegungen bleiben will. Gleichzeitig singt sie die ersten Takte mit, um Frau Schmidt den Einstieg zu erleichtern. Diese sucht die richtigen Töne, gleicht selbstständig ihre Intonation an, wenn es notwendig ist, und spielt dabei zunächst wie ihre Lehrerin Achtelnoten. Diese drei Herausforderungen gleichzeitig zu bewältigen ist eine bemerkenswerte Leistung, und die Schülerin ist nach dem ersten Versuch zu Recht stolz darauf und kann das Lob ihrer Lehrerin bestätigen. Beim nächsten Durchgang erhält Anke Feierabend den Spielfluss, indem sie ihrer Schülerin an der kritischen Stelle den korrekten Finger auf die Saite drückt und die Anweisungen mit Worten unterstützt. Frau Schmidt spielt die richtigen Töne weiter, allerdings in Viertel- statt Achtel-Repetitionen. Die Lehrerin spielt gleichzeitig Achtel-Repetitionen, gleicht dann ihre Strichrichtung an die der Schülerin an, und Frau Schmidt wechselt im zweiten Teil der Sequenz ebenfalls zu Achtel-Repetitionen.

Als die Schlusswendung erneut korrekt und sicher gelingt, möchte Frau Schmidt sofort zum Ausdruck bringen, dass sie diese Tonabfolge gerne spielt, aber sie findet die Worte nicht. Sie scheint fast an der Wortfindung zu verzweifeln, aber Anke Feierabend geht nicht darauf ein, sondern lobt ihr Spiel und kann sie damit von ihren Defiziten ablenken. Sie hilft ihr auch, die richtigen Worte zu finden, und Frau Schmidt streicht liebevoll über die Saiten ihrer Geige, während sie über ihre Vorlieben spricht.

Im nächsten Durchgang spielt Frau Schmidt zunächst wieder etwas unsicher mit einer Mischung aus Viertel- und Achtel-Repetitionen, doch im zweiten Achtel-Teil ist sie so sicher, dass sie die Achtel-Repetitionen sogar mit einer Bewegung des Oberkörpers musikalisch unterstützt. Ihr Kommentar im Anschluss zeigt ihre Überraschung über das eigene Spiel und ihre Freude. Sie ist sofort bereit weiterzuspielen und setzt als Erste die Geige an.

23. Unterrichtsstunde

Anke Feierabend schlägt in dieser Stunde das Lied Heut kommt der Hans zu mir vor, als Sigrid Schmidt gerade mit ihrem Bogen auf den Boden tippt. Das Tippen mit dem Bogen auf den Boden ist manchmal ein Beispiel für repetierende Bewegungen, die bei Demenzerkrankten zu beobachten sind, wenn sie ein Bedürfnis zum Ausdruck bringen oder sich selbst stimulieren wollen. In dieser Situation ist nicht ganz klar, ob Frau Schmidt eine innere Unruhe damit zum Ausdruck bringt. Das typisch Gleichförmige der Bewegung wird unterbrochen, als die Schülerin das Lied mit ihrer Lehrerin summt. Ihre Finger wechseln mehrmals ihre Haltung des Bogens, als sei sie nicht sicher, ob sie die Geige schon ansetzen soll oder nicht, weil Frau Feierabend noch in ihre Notizen schaut. Die Schlusstöne des gesummten Liedes begleitet Frau Schmidt dann eindeutig mit dem Bogentippen im gleichen Rhythmus und unterstreicht den letzten Ton mit schwungvoller Armbewegung. Hier deutet sich schon an, was im nächsten Absatz unter der Überschrift „Rhythmus isolieren“ beschrieben wird.

In dieser Unterrichtsstunde sind aber zunächst wieder Vereinfachungen zu beobachten: Frau Schmidt ist sofort motiviert und setzt an, um das Lied Heut kommt der Hans zu mir zu spielen. Auch als Frau Feierabend wie gewohnt nach gefundenem Anfangston noch einmal deutlich den Titel des Liedes nennt, hat Frau Schmidt noch Schwierigkeiten, die richtigen Töne auf der Geige zu spielen und korrigiert sich oft. Für den zweiten Teil des Kanons muss Frau Feierabend ihr durch körperlich bewegende Vermittlung helfen, den Ton zu finden, und Frau Schmidt spielt dann korrekt die Achtel-Repetitionen in langsamem Tempo. Im nächsten Teil der Sequenz wechselt Frau Schmidt in Viertel-Repetitionen, und Frau Feierabend gleicht ihre Bogenbewegung an die ihrer Schülerin an und macht diese Veränderung spiegelbildlich mit. Die Veränderung wird weder von Schülerin noch von Lehrerin je erwähnt, denn diese Vereinfachung ist für das Klangerlebnis nicht relevant und wurde von Frau Schmidt für sich selbst sinnvoll gewählt. Auch die tiefe Position des zweiten Fingers für den Ton f’ ist im Unterricht kein Thema, weil Frau Schmidt eine klare Klangvorstellung von dem Lied hat und diese Spieltechnik aus ihrem Körpergedächtnis heraus korrekt wählt. Vielleicht ist ihr gar nicht bewusst, welche musikalische Leistung sie hier zeigt, und ein Gespräch darüber würde sie irritieren.

In den weiteren Durchgängen spielen Schülerin und Lehrerin ab jetzt stets Viertel- statt Achtelrepetitionen, und Frau Schmidt genießt das Erfolgserlebnis so sehr, dass sie ihren Stolz und ihre Begeisterung in Worten im Anschluss an einen Durchgang sofort zum Ausdruck bringt: „Das kann ich am besten!“ Sie meint damit offenbar vor allem die letzten vier Töne des Liedes, für die sie auf die tiefe G-Saite wechseln muss. Eine solche typische Schlusskadenz ist in vielen Liedern und Musikwerken zu finden, und Frau Schmidt hat dies vermutlich oft und schon immer gerne gespielt. Dass sie das in diesem Stadium ihrer Demenzerkrankung stark spürt und positiv erlebt, ist ein Beispiel dafür, wie das Musizieren das Identitätsgefühl einer demenzerkrankten Person stärken und erhalten kann: Mit „Das kann ich am besten“ sagt sie nämlich auch „Das bin ich!“ Und dieses Gefühl ist für sie so schön, dass sie gleich noch einmal spielen und es wieder erleben will.

2. Rhythmus isolieren – Heut kommt der Hans zu mir

24. Unterrichtsstunde

Informationen zum Krankheitsverlauf bei Sigrid Schmidt finden Sie hier

Obwohl Sigrid Schmidt seit ihrem Umzug nach „Tönebön am See“ in Hameln insgesamt im Unterricht apathischer wirkt, zeitweise nicht oder langsamer reagiert, ist ihre Motivation zu musizieren deutlich sichtbar. Als Anke Feierabend in dieser Stunde das Lied Heut kommt der Hans zu mir in sehr schnellem Tempo für sich selbst anspielt, um eine sinnvolle Tonart für den Unterricht zu wählen, summt Frau Schmidt sofort mit, bewegt die Finger auf den Saiten ihrer Geige und setzt aus eigenem Antrieb an, als die Lehrerin ihr Vorspiel beendet. Sie muss sich aber noch gedulden, weil Frau Feierabend noch keine Aufforderung zum Spielen gegeben hat, sondern noch einmal das Lied in sehr schnellem Tempo vorspielt. Statt selbst auf der Geige zu streichen, beginnt Frau Schmidt zu musizieren, indem sie mit dem Bogen den Rhythmus des Liedes auf dem Boden mittippt. Das schnelle Tempo, das ihre Lehrerin auf der Geige vorspielt, könnte sie selbst nicht mitspielen, aber es ist ihr möglich, den Rhythmus zu isolieren und diesen in sehr schnellem Tempo zu klopfen. Den Rhythmus eines Musikstückes zu isolieren und mit einfachen Mitteln zu spielen, ist ein Beispiel dafür, dass Menschen sehr wohl gemeinsam mit anderen musizieren können, auch wenn irgendwann das Spiel auf dem Instrument aufgrund körperlicher und/oder geistigen Veränderungen nicht mehr möglich ist. Es ist eine andere, für Frau Schmidt in diesem Fall neue Form des Musizierens.

Tatsächlich hat Frau Schmidt zunächst Schwierigkeiten, Heut kommt der Hans zu mir gemeinsam mit ihrer Lehrerin auf der Geige mitzuspielen. Sie sucht Töne und kommt offensichtlich nicht so schnell mit. Als Frau Feierabend im nächsten Durchgang ein langsameres Tempo vorgibt, klappt es schon besser, aber Frau Schmidt spielt in dieser Stunde nur Viertelnoten statt der Achtelnoten, was die Lehrerin kommentarlos übernimmt und ihre Bogenführung an die der Schülerin angleicht. Den Saitenwechsel bei der Schlusskadenz realisiert sie wie in den letzten Stunden ohne Probleme und kommentiert das Lob ihrer Lehrerin mit den Worten „Es kommt so langsam“. Dieses motivierende Gefühl der Verbesserung will Anke Feierabend nutzen und festigen und fordert die Schülerin gleich zum nächsten Durchgang auf.

Der Filmausschnitt zeigt im weiteren Verlauf der Übung noch ein typisches Beispiel für die validierende Haltung, die Anke Feierabend stets im Unterricht einnimmt: Um den Anfangston von Heut kommt der Hans zu mir zu finden, soll Frau Schmidt zunächst die Tonfolge d – e mit dem 1. Finger auf der D-Saite spielen. Zwar singt die Lehrerin dann das Lied sogar mit, um bei Frau Schmidt die Klangvorstellung zu stärken, doch Frau Schmidt hat mit den Klängen offenbar spontan ein anderes Lied assoziiert und beginnt es wie selbstverständlich zu spielen. Anstatt die Schülerin zu unterbrechen und zu korrigieren, versucht Frau Feierabend das Lied, das sie spielt, zu erkennen und spielt es dann mit. Es ist Kommt ein Vogel geflogen, und Frau Feierabend lobt Frau Schmidt im Anschluss, ohne auf den spontanen Wechsel einzugehen, der für Frau Schmidt nicht bewusst stattgefunden hat. Sie will an dem Lied weiterarbeiten und Frau Feierabend akzeptiert und unterstützt das.

3. Rhythmus mit Tonabständen umsetzen – „Ersatzinstrumente“

26. Unterrichtsstunde: Ihr Kinderlein kommet

Ab der 26. Stunde findet Sigrid Schmidt für sich eine dritte neue Form des Musizierens, die sie auch noch ausüben kann, wenn das Geigenspiel aufgrund von körperlichen und/oder geistigen Veränderungen nicht mehr möglich ist. Zunächst verläuft der Unterricht wie in früheren Stunden so, dass Frau Feierabend zu dem Weihnachtslied Ihr Kinderlein kommet eine Vorübung anleitet, damit Frau Schmidt die richtige Position der Finger auf dem Griffbrett einnimmt. Die Übung ist die Moll-Tonleiter auf der D-Saite bis zur Quarte, um von dort aus das Lied zu beginnen.

Vorübung: Moll-Tonleiter

Ihr Kinderlein kommet

Sigrid Schmidt spielt die Tonleiterübung sofort und ohne Schwierigkeiten mit der tiefen Position des 2. Fingers, was ihre große musikalische Erfahrung zeigt, denn sie hat das Tonmaterial des Liedes nach einem kurzen Vorspiel ihrer Lehrerin sofort aus dem Körpergedächtnis heraus parat. Sie schaut nicht auf und scheint nur in ihr Spiel versunken zu sein, so dass Frau Feierabend kaum die Zeit findet, zur Sicherheit noch einmal den Titel des Liedes anzusagen, weil sie mit ihrer Schülerin mithalten möchte. Die will nämlich offensichtlich nach dem letzten Ton der Vorübung sofort mit dem nächsten Bogenstrich losspielen, ohne aus dem Spielfluss zu geraten. So starten dann auch beide das Weihnachtslied mit dem Abstrich, obwohl der Auftakt normalerweise mit dem Aufstrich gespielt werden würde.

Sigrid Schmidt kann das Lied ohne große Schwierigkeiten aus dem Körpergedächtnis heraus spielen und schaut konzentriert auf ihr Griffbrett. Allerdings scheint sie die Konzentration bei der Wiederholung der ersten vier Takte nicht mehr aufrechterhalten zu können und bricht jetzt bei einer kleinen Unsicherheit in der Intonation schon ab, stöhnt und schaut zur Seite, wo sie durch das Fenster das Geschehen außerhalb des Hauses beobachten kann. Anke Feierabend spielt das Weihnachtslied zunächst weiter und gibt ihrer Schülerin damit die Gelegenheit, nicht ihr Scheitern, sondern das Lied zu erleben. Das ist intuitiv genau das Richtige für Sigrid Schmidt, denn obwohl sie aufgehört hat, auf ihrer Geige zu spielen, ist sie immer noch mitten im Lied, und als Frau Feierabend schließlich doch absetzt, um wieder Kontakt aufzunehmen mit ihrer Schülerin, da klopft Frau Schmidt ohne Pause und ohne Reaktion den Rhythmus des weiteren Liedverlaufs mit dem Bogen auf den Boden. Frau Feierabend realisiert sofort, dass ihre Schülerin immer noch das Lied „spielt“, allerdings nun in einer neuen Form. Sie stimmt wieder mit ein und summt die Melodie zum Rhythmus, den Frau Schmidt klopft. Der Fußboden ist nun für Frau Schmidt eine imaginäre Klaviatur, auf der sie den Rhythmus von Ihr Kinderlein kommet mit den entsprechenden Tonabständen tippt. Sie schaut immer noch aus dem Fenster, selbst als die Lehrerin erfreut über diese neue Spielidee lacht, und erst beim höchsten Ton des Liedes, für den sie sich auf dem imaginären Instrument auf dem Boden strecken muss, wendet sie den Blick vom Fenster weg und schaut ihre Lehrerin an. Ihr Blick erscheint überrascht, vielleicht auch herausfordernd, auf jeden Fall erhellt im Gegensatz zu den vorherigen wortlosen Aktionen. Sie hat für sich eine Art Ersatzinstrument gefunden, auf dem sie mit ihrer Lehrerin gemeinsam musizieren kann, auch wenn das Spielen der Violine zunehmend schwieriger wird. In dieser Situation findet sie sogar wieder Lust und Mut, die Geige erneut anzusetzen und das Lied auf dem Instrument zu probieren.

26. Unterrichtsstunde: Dornröschen war ein schönes Kind – C-Dur

Auch bei dem Lied Dornröschen war ein schönes Kind wechselt Frau Schmidt zeitweise auf ihr neues Ersatzinstrument, nämlich die imaginäre Klaviatur auf dem Fußboden. Das Filmbeispiel beginnt mit der Unterrichtssituation zum Abschluss des gemeinsam gespielten Liedes Wenn ich ein Vöglein wär’ und zeigt zunächst, dass die demenzerkrankte Schülerin kaum reagiert, das gemeinsam geglückte Geigenspiel nicht kommentiert und keinen Blickkontakt zu ihrer Lehrerin aufnimmt, sondern aus dem Fenster schaut. Sie vermittelt uns Beobachtern den Eindruck, als versuche sie stets die Situation und ihre Umgebung zu verstehen. Das Tippen mit dem Geigenbogen auf den Fußboden ist ein Anzeichen ihrer Unruhe und könnte auf ein Bedürfnis hinweisen.

Bekannte Musik versteht sie aber offenbar sofort, denn als Anke Feierabend das Lied Dornröschen war ein schönes Kind in munterem Tempo anspielt, lockert sich ihre erstarrte Körperhaltung etwas auf. Sie hebt den Kopf und beginnt, das Lied mit dem Bogen auf ihrer imaginären Klaviatur auf dem Fußboden unisono mitzuspielen. Ihr Blick ist immer noch aus dem Fenster gerichtet, aber durch das Musizieren nimmt sie Kontakt zu ihrer Lehrerin auf und wirkt weniger isoliert.

Als Frau Feierabend ihre Schülerin nach ihrem Vorspiel direkt fragt, ob sie das Lied mag und spielen will, schaut diese ihr erstmals in die Augen, nickt deutlich ohne zu sprechen und setzt langsam die Geige an. „Wenn ich das kann“ sind ihre einzigen Worte, die Frau Feierabend mit ermutigenden Worten außer Kraft setzt: „Ich glaube, Sie können das!“

Anke Feierabend entscheidet sich zunächst dazu, das Lied Dornröschen war ein schönes Kind in der Tonart C-Dur mit ihrer Schülerin zu spielen. Um die richtige Position der Finger auf der D-Saite zu garantieren, lässt sie Frau Schmidt die Moll-Tonleiter bis zum 3. Finger spielen. Mit Worten gibt sie nur die Anweisung „wir wandern hoch bis zum 3. Finger“, und es ist erstaunlich, dass Frau Schmidt ohne besondere Aufforderung korrekt die tiefe Position des 2. Fingers wählt. Bei den ersten Tönen der Tonleiter gleicht sie zwar sichtbar ihre Handposition in die 1. Lage an, aber der 3. Ton erklingt sofort sauber als tiefe Terz. Entweder hat sie das Tonmaterial des vorher vorgespielten Liedes in ihrer Klangvorstellung so präsent, dass sie es aus dem Körpergedächtnis heraus quasi automatisch korrekt spielt, oder sie nimmt Nuancen in der Körperbewegung ihrer Lehrerin wahr, die sie unbewusst spiegelbildlich nachahmt und so die Töne korrekt spielt. Beide Erklärungsmöglichkeiten wären erstaunliche kognitive Leistungen, die bei einer Demenzerkrankung in diesem Stadium bei Alltagshandlungen kaum zu beobachten sind, beim Musizieren jedoch offensichtlich möglich werden.

Vorübung: Moll-Tonleiter

Dornröschen war ein schönes Kind – C-Dur

Als Sigrid Schmidt die ersten Töne des Liedes vergeblich sucht, weil sie zunächst wieder die Tonleiter abwärts statt einen weiteren Tonschritt aufwärts spielen will, bricht sie sehr bald ab. Ihr Kommentar „Ich komm da einfach nicht rein!“ wirkt unangemessen stark, denn sie hat in früheren Stunden schon oft über längere Zeit Töne mit Ehrgeiz und Freude gesucht, ohne so schnell aufzugeben. Doch Frau Feierabend gibt dem negativen Erlebnis nicht viel Raum, sondern kann sie ermutigend dazu bewegen, es gleich noch einmal zu versuchen. Und tatsächlich gelingt Frau Schmidt nach der erneuten Tonleiterübung der Anfang von Dornröschen war ein schönes Kind mit der korrekten Aufwärtsbewegung der Melodie, und sie stockt erst wieder, als der Saitenwechsel für den tiefsten Ton des Liedes c’ ansteht. Frau Feierabend versucht ohne Worte, sondern mit einer körperlich bewegenden Vermittlung den Ringfinger ihrer Schülerin in die richtige Position zu drücken, doch Frau Schmidt bricht erneut ab und starrt aus dem Fenster, ohne die Erläuterungen ihrer Lehrerin wahrzunehmen. In ihrer Mimik ist keine Freude zu sehen, auch als sie auf die Vorführung ihrer Lehrerin schaut und nickt, als würde sie verstehen. Trotzdem setzt sie noch einmal die Geige zum nächsten Versuch an, obwohl sie dabei die Mundwinkel verzieht. Der Ehrgeiz und die Ausdauer sind noch da, und tatsächlich gelingt es in einem weiteren Durchgang schließlich, dass sie den Saitenwechsel realisieren kann, zwar mit körperlich bewegender Unterstützung ihrer Lehrerin aber bei der Wiederholung auch mit einer Bewegung des Oberkörpers, die vermuten lässt, dass sie ein wenig in die Melodie eintaucht und aus dem Körper heraus musiziert. Nur der Schlusston ist wieder nicht zu finden, und Frau Schmidt bricht – anders als in früheren Stunden – wieder sehr schnell frustriert ab.

4. Ablenkungen und Ersatzhandlungen

26. Unterrichtsstunde: Dornröschen war ein schönes Kind – D-Dur

Um die Schwierigkeiten bei einem bestimmten Saitenwechsel zu umgehen, ist es im Violinunterricht manchmal sinnvoll, ein Lied in einer anderen Tonart zu spielen. Anke Feierabend wendet diese Methode in der 26. Stunde bei dem Lied Dornröschen war ein schönes Kind an. Während das Lied in C-Dur einen Saitenwechsel auf die G-Saite für den tiefsten Ton c’ beinhaltet, fällt dieser in D-Dur weg. Stattdessen beginnt man das Lied auf der Violine auf der A-Saite und wechselt dann auf die D-Saite.

Dornröschen war ein schönes Kind – D-Dur

Als Frau Feierabend diese Veränderung des Liedes beschreibt, reagiert ihre Schülerin nicht, sondern schließt die Augen und wirkt, als würde sie im Sitzen einnicken. Die Aufforderung zu spielen scheint sie aus einem Sekundenschlaf zu reißen, und sie setzt die Geige an. Ob es Medikamente zur Beruhigung sind, die diese Müdigkeit bewirkt haben, oder eine kognitive Überforderung, vor der Frau Schmidt sich unbewusst verschließt, kann eine Lehrkraft in dieser Situation nicht herausfinden. Evident ist aber, dass die Schülerin trotz Erschöpfung mitspielen will.

Der Anfang des Liedes auf der A-Saite gespielt gelingt Sigrid Schmidt zunächst sehr gut, und auch den Übergang zur D-Saite bewältigt sie aus dem Körpergedächtnis heraus ohne Schwierigkeiten. Dann will sie weiter auf die G-Saite wechseln, und Frau Feierabend greift buchstäblich in ihre Fingerbewegung ein und erläutert die Korrektur mit Worten. Sigrid Schmidt reagiert kaum und nimmt keinen Kontakt zu ihrer Lehrerin auf, spielt aber das Lied korrekt weiter, wobei sie den nächsten Saitenwechsel auf die A-Saite übergeht.

In einem weiteren Durchgang schaut Frau Schmidt kurz in Richtung Fenster, und als der folgende Saitenwechsel nicht klappt, bricht sie sofort ab und lässt sich von den Geschehnissen vor dem Fenster ablenken. Frau Feierabend bemerkt dies und versucht durch Nähe und Berührung wieder Kontakt zu ihrer Schülerin aufzunehmen, die inzwischen unruhig mit dem Bogen auf den Boden tippt und weiterhin aus dem Fenster schaut. Dass sie auf die Frage, ob sie lieber ein anderes Lied spielen will, prompt mit „Nö, das können wir ruhig nehmen.“ antwortet, ist erstaunlich und zeigt, dass sie entgegen ihres unmotiviert wirkenden Verhaltens das Lied doch genießt und weitermachen will.

Doch ihre Konzentration ist nicht so ausdauernd wie in früheren Unterrichtsstunden, denn obwohl sie im nächsten Durchgang zunächst selbstständig ihre Töne und deren Intonation korrigiert, bricht sie früh ab und lässt sich wieder von den Geschehnissen vor dem Fenster ablenken. Die Umgebung zu begreifen ist vermutlich in diesem Stadium ihrer demenziellen Veränderung sehr wichtig und beschäftigt sie sehr. Trotzdem hört sie offensichtlich dem Spiel ihrer Lehrerin zu, denn sie nickt und wippt zum Lied mit dem Oberkörper, hält die Geige spielbereit am Hals und bestätigt die Frage, ob sie das Lied noch einmal spielen will.

Als der Saitenwechsel beim nächsten Durchgang wieder nicht klappt, kommentiert sie zum ersten Mal ihr Problem „Ich krieg’ das einfach nicht hin!“ und wirkt wie versteinert. Frau Feierabend behält ihren unbeschwerten Tonfall und hat sofort einen Lösungsvorschlag, nämlich das Lied langsamer zu spielen. Doch Frau Schmidt antwortet zögernd: “Weiß ich nicht.” und sieht frustriert aus. Als die Lehrerin jedoch ankündigt, das Lied nur noch ein Mal zu spielen, scheint Frau Schmidt erleichtert zu sein und setzt sofort die Geige an. Tatsächlich ist dieser letzte Durchgang auch die bislang beste Version und zeigt, dass die Schülerin trotz ihres apathisch wirkenden Verhaltens doch noch Ausdauer und Willenskraft hat. Sie hat eine große kognitive Leistung vollbracht, die die Lehrerin ehrlich lobt und wertschätzt. Trotzdem zeigt Frau Schmidts Mimik, dass sie ihre Defizite realisiert und damit nicht glücklich ist.

5. „Ersatzinstrumente“

26. Unterrichtsstunde: Hänsel und Gretel

Um ihrer Schülerin wieder ein Erfolgserlebnis zu ermöglichen, schlägt Anke Feierabend im Anschluss an Dornröschen war ein schönes Kind vor, das 5-Ton-Lied Hänsel und Gretel zu spielen.

Während ihrer Überlegungen sieht man, wie Sigrid Schmidt teilnahmslos im Zimmer umher und aus dem Fenster schaut. Sie spricht nicht und nimmt keinen Blickkontakt zu ihrer Lehrerin auf, tippt aber mit dem Bogen auf dem Boden – ein Zeichen von innerer Unruhe und/oder einem Bedürfnis, das sie nicht mit Worten ausdrücken kann oder will. Die Bewegung steht im Kontrast zu ihrer teilnahmslosen Mimik. Frau Feierabend singt Hänsel und Gretel fröhlich vor, schaut noch in ihre Notizen und bemerkt zunächst nicht, dass sich das Klopfen des Bogens bei Frau Schmidt verändert hat. Sie spielt nämlich schon auf ihrem Ersatzinstrument, der imaginären Klaviatur auf dem Boden, das Lied Hänsel und Gretel. Doch schließlich bemerkt es ihre Lehrerin und singt gleich mit, um diese neue Art des gemeinsamen Musizierens entstehen zu lassen.

Frau Schmidts Reaktionen sind sehr langsam und wirken teilnahmslos, aber sie setzt schließlich die Geige an und wendet den Blick vom Fenster ab, als Frau Feierabend sich vorbeugt und sie fragt, ob sie das Lied gemeinsam spielen wollen. Sobald sie in spiegelbildlichen Bewegungen mit ihrer Lehrerin die Tonleiter-Vorübung zu Hänsel und Gretel spielt, wirkt sie wieder wie in früheren Stunden und beginnt aus ihrem Körpergedächtnis heraus auch wieder wie früher automatisch mit Hänschen klein. Als sie dies bemerkt, freut sie sich über diesen kleinen Fehler, und wir Zuschauer sehen einen der wenigen Momente in dieser Stunde, in denen sie lacht. Dieses kleine musikalische Erlebnis hat sie kurzzeitig aus ihrer emotionalen Erstarrung geweckt, und sie spielt in Folge das einfache 5-Ton-Lied mehrmals ohne Probleme.

Im Anschluss pustet sie auch wieder die Luft aus, wie nach erfolgreich gemeisterten Stücken in früheren Stunden und bestätigt das Lob ihrer Lehrerin mit „Ja, ging ganz gut“. Die stärkste emotionale Äußerung in dieser Situation ist aber Frau Schmidts Antwort auf die Frage ihrer Lehrerin, ob sie das Lied noch einmal spielen will: „Ne, das möchte ich jetzt nicht mehr.“ Im Vergleich zu anderen Äußerungen sagt sie das unverhältnismäßig laut, schüttelt den Kopf, presst die Lippen zusammen und tippt fortwährend mit dem Bogen auf den Boden. Auch wenn sie ihre Umgebung vielleicht nicht mehr versteht und sehr viel geistige Anstrengung aufbringen muss, um einfache Lieder zu spielen – sie weiß ganz genau, dass sie dieses Lied jetzt nicht mehr spielen mag. Und das ist wieder eine Gefühlsäußerung, die ihre Identität zeigt und stärkt, und die von Anke Feierabend selbstverständlich akzeptiert wird.

Da Frau Schmidt in früheren Unterrichtsstunden vereinzelt zum Ausdruck gebracht hat, dass Sie nicht so gerne Kinderlieder spielt, sondern lieber Volkslieder, die vor allem von Erwachsenen gesungen werden, könnte dies auch hier ihr Grund für die Ablehnung von Hänsel und Gretel sein. Das scheint Anke Feierabend zu spüren, und sie schlägt im Folgenden vor, die Ode an die Freude, also Freude, schöner Götterfunken aus Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie zu spielen.

26. Unterrichtsstunde: Freude, schöner Götterfunken

Anke Feierabend spielt das Werk zunächst recht getragen vor, und schon nach den ersten Tönen nickt Frau Schmidt, weil sie das Lied gleich erkannt hat. Ihre Mimik bleibt unbeweglich, und sie schaut in die Ferne, als könne sie den Klang so besser genießen. Sie beobachtet das Geschehen vor dem Fenster, und es könnte sein, dass die vertraute Musik ihr hilft, diesen Moment und ihre Umwelt mit einem Gefühl von Geborgenheit wahrzunehmen. Frau Feierabend spielt das Werk in Gänze vor – auch um für sich zu prüfen, ob die Tonart für ihre Schülerin sinnvoll ist – und Frau Schmidt wippt und wiegt sich, während ihr Blick von unterschiedlichen Ereignissen außerhalb des Bildes gefangen wird. Der Bildausschnitt bleibt lange in der Nahaufnahme, so dass man Mimik und Blickrichtung von Frau Schmidt sehr gut nachvollziehen kann, und am Schluss des Liedes ist ganz leise zu hören, dass sie auch wieder mit dem Bogen den Rhythmus auf dem Fußboden mitklopft.

Sobald das Lied verklingt, nimmt Sigrid Schmidt Blickkontakt zu ihrer Lehrerin auf, die sie auffordert, gemeinsam mit ihr zu spielen. Die Schülerin folgt dem sehr langsam, als sei sie unsicher, ob sie das möchte. Wie schon in früheren Unterrichtssituationen mit Freude, schöner Götterfunken reagiert Frau Schmidt nicht freudig motiviert auf das Lied, sondern eher reserviert, als habe sie großen Respekt vor dem großen Kunstwerk, das sie nun spielen soll. Dabei besteht die Melodie von Freude, schöner Götterfunken fast ausschließlich aus dem Tonmaterial im 5-Ton-Raum, so dass schon Anfänger auf allen Instrumenten sehr schnell in der Lage sind, es zu spielen.

Freude, schöner Götterfunken

Auch Frau Schmidt könnte problemlos mit dem 2. Finger auf der D-Saite das Lied beginnen, doch sie sucht zunächst den Anfangston in der 3. Lage der G-Saite. Anke Feierabend korrigiert das nicht gleich, sondern zeigt Erstaunen über diese schwierige Spieltechnik, die ihre Schülerin gewählt hat, und spielt sogar mit. Frau Schmidt versteht dies als Bestätigung, probiert einige Töne in der 3. Lage auf der G-Saite, bricht dann ab und schaut wieder wortlos zum Fenster. Wahrscheinlich hat sie die Anweisungen und Erläuterungen ihrer Lehrerin auch akustisch nicht verstanden und war nicht sicher, was sie tun soll.

Als Frau Schmidt schließlich mit ihrer Lehrerin Freude, schöner Götterfunken auf der D-Saite spielt, sieht man in der Detailaufnahme ihrer Greiffinger, dass ihre Bewegungen langsam und suchend sind. Bei der Wiederholung scheint sie die Klangvorstellung verloren zu haben, bricht ab und presst die Lippen aufeinander, während sie wortlos aus dem Fenster schaut. Die Ermutigungen ihrer Lehrerin scheinen sie nicht zu erreichen, und so ist es sehr überraschend, dass sie offenbar doch mit ihren Gedanken ganz bei dem Lied und ihrem Spiel ist, denn sie spricht ihre Geige plötzlich an und schimpft scherzhaft mit ihr, wie sie vermutlich früher als Lehrerin mit ihren Schülerinnen und Schülern geschimpft hat.

Im weiteren Verlauf der Stunde lässt sich Frau Schmidt wieder vom Geschehen vor dem Fenster ablenken, äußert aber sofort Zustimmung, als Frau Feierabend fragt, ob sie das Lied noch einmal probieren will. Ihr Zögern beim Aufnehmen des Instruments könnte auch daher rühren, dass ihr das Geigenspiel zunehmend Schmerzen bereitet. Sie zeigt sich aber jetzt motivierter, Freude, schöner Götterfunken zu spielen, und korrigiert selbstständig ihre Intonation. Doch sie kann sich nicht sehr lange konzentrieren, ihre Fehler nicht tolerieren und bricht wieder ab. Anke Feierabend will Nähe und Zuversicht aufbauen, doch ihre Schülerin ist mit Blicken und Berührungen nicht recht zu erreichen, sondern geht in repetierende Bewegungen mit Oberkörper und Bogen über.

Dass sie dennoch mitten im Musizieren bleibt, ist daran zu erkennen, dass das Klopfen mit dem Bogen auf dem Boden einen Rhythmus hat und sie bald auch Tonabstände auf der imaginären Klaviatur spielt. Frau Feierabend wartet lange und versucht, das Lied zu erkennen, das ihre Schülerin spielt, doch auch uns Zuschauer erschließt es sich beim ersten Sehen nicht. Und so bleibt die Lehrerin bei dem derzeitigen Unterrichtsstoff und bittet ihre Schülerin, noch einmal Freude, schöner Götterfunken zu spielen. Die kämpft mit Müdigkeit und schließt zeitweise die Augen. Dass sie die Geige nicht aufnehmen will und leicht zurückzuckt, als Frau Feierabend sie ihr ansetzen will, könnte auch ein Hinweis darauf sein, dass sie Freude, schöner Götterfunken nicht spielen will. Mit „Ich weiß nicht, ob ich das kann.“ bringt sie ihre Verunsicherung zum Ausdruck. Dennoch setzt sie nun die Geige eigenständig ans Kinn. Bald wird deutlich, dass sie schon die ganze Zeit ein anderes Lied im Kopf hat, das sie aber vermutlich nicht in Worten zum Ausdruck bringen kann. Denn nach der Vorübung zu Freude, schöner Götterfunken – den Tönen d-e-fis – wiederholt sie die Töne und spielt damit das Lied An der Saale hellem Strande weiter. Frau Feierabend erkennt dies sofort und reagiert validierend, indem sie ganz selbstverständlich das Lied mitspielt und daran weiterarbeitet. Denn dieses Lied scheint in diesem Moment genau das passende für ihre Schülerin zu sein. Sigrid Schmidt spielt das ganze Lied mit viel Konzentration und kann ihre Fehler tolerieren und überspielen. Auf die Frage, ob sie es noch einmal spielen möchte, nickt sie mit Blickkontakt zu ihrer Lehrerin.

Wenn man jetzt das Video zurückspult zu der Stelle, an der Frau Schmidt rhythmisch auf einer imaginären Klaviatur auf dem Boden spielt (ca. ab 3’40’’), dann kann man erkennen, dass sie schon hier An der Saale hellem Strande mit korrektem Rhythmus und korrekten Tonabständen spielt – das Lied war also schon dort in ihrer Klangvorstellung präsent.

26. Unterrichtsstunde: An der Saale hellem Strande

Im weiteren Verlauf der Unterrichtsszene, in der das Lied An der Saale hellem Strande geübt wird, geschieht nicht viel Neues bezüglich Ersatzinstrumente oder Ersatzhandlungen. Die Filmsequenz ist aber interessant, weil Sigrid Schmidt zweimal sehr deutlich ihren Willen mit Worten äußert, und das ist in diesem Stadium der Demenz bemerkenswert.

Zu Beginn des Filmbeispiels erleben wir noch einmal, wie Frau Schmidt das von ihr so geliebte Lied An der Saale hellem Strande ganz in sich und die Musik versunken spielt. Sie scheint in einen Flow-Zustand versetzt zu sein, in dem sie die Außenwelt nicht wahrnimmt und vermutlich ein Gefühl von Zufriedenheit und Erfüllung erlebt. Als ihr am Schluss des Liedes der Sprung auf den höchsten Ton des Liedes nicht gelingt, bricht sie sehr schnell ab und legt die Geige auf die Knie. Sie lässt sich aus dem Spiel reißen und zeigt nicht wie in früheren Situationen die Energie und Ausdauer, eine Lösung zu finden und ihre Fehler zu tolerieren. Stattdessen schaut sie aus dem Fenster und nimmt zunächst keinen Kontakt zu ihrer Lehrerin auf. Anke Feierabend erläutert, wie der Fehler passieren konnte und ermutigt sie, das Lied noch einmal mit ihr zu spielen. Jetzt nimmt Frau Schmidt Blickkontakt auf, reagiert aber nicht mit Worten oder Taten auf die Aufforderung, sondern tippt repetierend mit dem Bogen auf dem Boden und schaut wieder aus dem Fenster. Das deutet auf eine innere Unruhe hin oder auf ein Bedürfnis, das sie nicht in Worten zum Ausdruck bringen kann oder will. Frau Feierabend gibt ihr Zeit und beobachtet ihre Schülerin, bevor sie mit sanften Worten deutlich fragt, ob Frau Schmidt das Lied noch einmal mit ihr spielen will. Die scheint mit Blick auf ihre Geige auf dem Schoß fast einzunicken und wippt mit dem Oberkörper vor und zurück. Sie blickt ihre Lehrerin nicht an und antwortet nicht. Um ihre Schülerin zu erreichen, lehnt sich Frau Feierabend nun vor und fragt freundlich und direkt, ob sie nicht mehr spielen möchte. Auf diese Frage kommt die Antwort nun überraschend schnell und deutlich: „Doch!“ Es zeigt, dass Frau Schmidt trotz ihrer scheinbaren geistigen Abwesenheit und Antriebslosigkeit doch ganz bei der Sache ist und es ihr sehr viel bedeutet, das Lied An der Saale hellem Strande zu spielen. Sie zupft an den Saiten ihrer Geige, ihre Blickrichtung wechselt mehrmals, und sie kratzt sich am Kopf, während Frau Feierabend fragt, ob sie das Lied zusammen spielen wollen. Sie erhält keine Antwort, Frau Schmidt scheint unerreichbar, wiegt den Oberkörper und starrt nach unten. Frau Feierabend entscheidet, einfach mit dem Spielen anzufangen und bezieht ihre Schülerin mit dem Wort „wir“ mit ein.

Es könnte ja sein, dass die demenzerkrankte Frau wie schon so häufig wieder wie ein Spiegelbild auch ihre Geige ansetzt. Doch das geschieht nicht. Frau Schmidt war offenbar die ganze Zeit nicht abwesend, sondern innerlich beschäftigt mit dem Erlebnis, dass ihre Finger bzw. ihre Geige das schöne Lied nicht spielen können, denn sie richtet das Wort an die Saiten oder an die Finger, als sie vorwurfsvoll sagt: „Ihr könnt das doch!“ Vielleicht hat sie als Lehrerin so zu ihren Schülern gesprochen, wenn sie sie aufforderte, sich mehr Mühe zu geben. Frau Feierabend greift den Satz auf, aber sie verändert den Tonfall dabei und bestätigt ernsthaft und ermutigend, dass Frau Schmidt das Lied spielen kann. Aber erst als sie eine detaillierte Handlungsanweisung gibt („Dann nehmen wir jetzt unsere Geigen und spielen“), hebt Frau Schmidt wieder ihr Instrument an den Hals.

Den nächsten gemeinsam gespielten Durchgang des Liedes meistert Sigrid Schmidt wieder aus dem Körpergedächtnis heraus erfolgreich und überspielt die Schwierigkeit beim zweiten Saitenwechsel. Als der Sprung am Schluss des Liedes wieder nicht klappt, bricht sie erneut sofort ab, behält aber die Geige am Hals und beginnt zu summen. In dieser Situation dient also das Summen als Ersatzinstrument und bietet die Chance, das Gefühl vom gemeinsamen Musizieren und von dem schönen Lied aufrechtzuerhalten. Frau Feierabend spielt das Lied alleine zu Ende und ermöglicht ihr so ein zufriedenstellendes Klangergebnis im gemeinsamen Spielen und Summen. Frau Schmidt will es sogar noch einmal spielen, doch ihr Nicken ist fast unmerklich und die Lippen gepresst. Als beim nächsten Durchgang der Schluss mit körperlich bewegender Vermittlung durch die Lehrerin gelingt, verzieht sie allerdings wieder schweigend die Lippen, anstatt Freude zu zeigen. Frau Feierabend geht nicht auf die negative Stimmung ihrer Schülerin ein, sondern bleibt positiv und berührt Frau Schmidts Knie, als sie sie lobt. Frau Schmidt schaut ihr jetzt in die Augen, und als Frau Feierabend als nächstes Lied Hänschen klein vorschlägt, bekundet sie noch einmal mit deutlichen Worten, dass sie ganz bei der Sache ist und eine klare Meinung hat: „Nee, das ist mir zu blöd!“ Über die Wahrheit dieser deutlichen Worte muss Frau Feierabend lachen, und Frau Schmidt schmunzelt seit langer Zeit wieder. Auch wenn sie vieles nicht mehr begreift und in Worte fassen kann, so bleibt ihr Musikgeschmack doch erhalten und damit ein Teil ihrer Identität, die demenzerkrankten Menschen in anderen Aspekten zunehmend verloren geht.

26. Unterrichtsstunde: Und in dem Schneegebirge

Anke Feierabend beugt sich vor, als sie das Lied Und in dem Schneegebirge in der 26. Stunde leise vorsummt. Sigrid Schmidt hat aus der vorherigen Situation noch ein Lächeln auf dem Gesicht, erkennt das Lied schnell und stimmt in das Summen ihrer Lehrerin ein. Dazu spielt sie auch wieder mit dem Geigenboden auf ihrer imaginären Klaviatur auf dem Boden die Melodie mit dem richtigen Rhythmus und den Tonabständen mit. Das allein zeigt schon eine große Koordinationsfähigkeit, wie sie bei Frau Schmidt in diesem Stadium der Demenz im Alltag kaum mehr zu sehen ist – beim Musizieren scheint diese Leistung möglich zu sein. Als Frau Feierabend sie fragt, ob sie das Lied auf der Geige spielen wollen, scheint Frau Schmidt zu zögern. Vielleicht möchte sie lieber summen und mit dem Geigenbogen auf dem Boden spielen und traut sich das Geigenspiel nicht so recht zu, aber dann zeigt sie doch Ehrgeiz und Willen und nimmt mit hart gesprochenen Worten die Herausforderung an: „Können wir ja mal testen!“

Gemeinsam beginnen Lehrerin und Schülerin zu spielen, und Frau Schmidt spielt den hohen Ton h’ sehr sauber intoniert in der 2. Lage statt mit einem Saitenwechsel. Beim nächsten Durchgang behält sie zwar die Geige am Hals und schaut auf ihr Instrument, klopft aber mit dem Bogen die Melodie auf dem Boden. Die Lehrerin fordert sie noch einmal auf mitzuspielen, woraufhin die Schülerin mit der Greifhand über die Saiten streicht. Aber Frau Feierabend realisiert intuitiv, dass für Frau Schmidt das Mitspielen nun auf ihrem neuen Instrument geschieht, und beginnt alleine das Lied auf der Geige zu spielen. Frau Schmidt wirkt ganz versunken in das Lied, während sie gleichzeitig summt, das Lied auf der Klaviatur am Boden klopft und dabei auf die Geige schaut.

Im weiteren Verlauf der Stunde gibt Anke Feierabend ihrer Schülerin noch mehrmals die Möglichkeit, auf der Violine zu spielen und vielleicht aus dem Körpergedächtnis heraus die Fähigkeit zu erhalten und zu trainieren. Das ist auch zeitweise für Frau Schmidt zufriedenstellend, aber sie bricht schneller als in früheren Stunden ab, wenn das Spiel nicht gelingt. Zwar klappt auch der Saitenwechsel zum höchsten Ton des Liedes noch einmal mit Suchen und Willenskraft, aber für die Schlusstöne setzt Frau Schmidt das Instrument ab und summt zum Spiel ihrer Lehrerin.

Und sie erfindet sogar noch ein weiteres Ersatzinstrument: Während Anke Feierabend Und in dem Schneegebirge summt, beginnt Frau Schmidt mitzuspielen, indem sie den Bogen im Rhythmus hin und her dreht. Sie behält die Geige dabei spielbereit am Hals, schaut auf den Boden und wiegt sich zur Musik.

Zusammenfassung

Im Instrumentalunterricht mit demenziell veränderten Menschen wird der Punkt kommen, an dem das Instrument nicht mehr in der gewohnten Art gespielt werden kann – entweder aus geistigen oder aus körperlichen Gründen oder beiden. Allerdings geschieht dies langsam und bietet Chancen, dass sich gleichzeitig neue Formen des Musizierens entwickeln. Im Beispiel von Sigrid Schmidt ergibt es sich, dass die Schülerin ihr Spiel selbstständig vereinfacht, indem sie statt Achtel- jetzt Viertelrepetitionen spielt. Anke Feierabend akzeptiert und unterstützt diese Abwandlung, ohne sie zu kommentieren, denn das würde Frau Schmidt vermutlich verunsichern. Andere Vereinfachungen im Instrumentalunterricht könnten sein, dass einzelne Töne ausgelassen und überspielt werden, falls dies mit der Klangvorstellung des Schülers oder der Schülerin vereinbar ist und nicht irritiert.

Eine weitere neue Form des Musizierens zeigt sich darin, dass Frau Schmidt den Rhythmus eines Liedes isoliert und ihn mit dem Bogen klopft. Man könnte Rhythmen von Liedern auch Klatschen oder auf den Oberschenkeln patschen oder auf einem Rhythmusinstrument wie einer Trommel oder Klanghölzern spielen – Frau Schmidt findet für sich die Version mit dem Geigenbogen auf dem Boden und erlebt auf diese Weise ihr Instrument weiterhin haptisch.

Besonders beeindruckend ist aber in den Unterrichtsstunden mit Frau Schmidt, dass sie für sich selbst sogar Ersatzinstrumente findet, auf denen sie Rhythmus und Melodie eines Liedes umsetzen und so das gemeinsame Musizieren mit ihrer Lehrerin weiter durchführen kann. Summen und Singen, also ihre Stimme hat sie schon immer im Repertoire, doch jetzt entwickelt sie auch eine imaginäre Klaviatur auf dem Boden, auf der sie mit ihrem Bogen spielen kann – ohne Intonationsschwierigkeiten und hörbare Fehltöne.

Für eine Lehrkraft ist diese Situation eine Gratwanderung: Einerseits erhält es länger die ursprünglichen Fertigkeiten auf dem Instrument, wenn immer wieder die Gelegenheit gegeben wird, es aus dem Körpergedächtnis heraus zu spielen. Andererseits sollten Frustrationen möglichst vermieden werden, und neue Formen des Musizierens, die sich quasi von selbst einstellen, sind eine große Chance, das Erlebnis des gemeinsamen Musizierens aufrechtzuerhalten. Denn das Bedürfnis, an gemeinschaftlichen Musikerlebnissen teilzuhaben, bleibt ebenso erhalten, wie der eigene Musikgeschmack, der ein Ausdruck der Identität ist.

Die Filme von dem Unterricht mit Frau Schmidt zeigen aber auch, dass sie zunehmend damit beschäftigt ist, ihre Umgebung immer wieder neu wahrzunehmen, zu verstehen und zu begreifen, und dass sie ihr inneres Erleben nicht mit Worten zum Ausdruck bringen kann oder will. Sie ist immer wieder vom Geigenspiel abgelenkt, entweder weil sie sich aus Müdigkeit oder Überforderung in sich selbst zurückzieht, oder weil sie die Geschehnisse vor ihrem Zimmerfenster betrachtet. Sie wirkt zeitweise teilnahmslos und nimmt keinen Kontakt zu ihrer Lehrerin auf, und sie zeigt repetierende Bewegungen wie das Wippen mit dem Oberkörper oder ein Tippen mit dem Bogen auf dem Fußboden, das nicht musikalisch, sondern eher drängend und fordernd wirkt. Für eine Lehrkraft ist in solchen Situationen nicht klar und auch nicht relevant, inwieweit Medikamente oder die fortschreitende Demenz eine Rolle spielen.

Informationen zum Krankheitsverlauf bei Sigrid Schmidt finden Sie hier

Kolleginnen und Kollegen aus Pflege und Betreuung berichten manchmal, dass demenzerkrankte Menschen unangenehme Tätigkeiten wie Körperpflege entspannter erleben, wenn sie dabei gemeinsam ein Lied singen oder bekannte Musik hören. Dass sich Sigrid Schmidt in den Unterrichtsstunden in der neuen Umgebung in Hameln während des Geigenunterrichts so stark ablenken lässt, könnte auch darin begründet liegen, dass sie die für sie unverständlichen und vielleicht verunsichernden Geschehnisse vor dem Fenster angenehmer erlebt, wenn sie ihre geliebten Geigenklänge hört. In den Unterrichtsstunden mit Anke Feierabend fühlt sie sich geborgen und angenommen und kann es aus diesem Gefühl der Sicherheit heraus wagen, sich die unbekannten Geschehnisse vor dem Fenster anzuschauen. Auch dies könnte ein positiver Effekt des Instrumentalunterrichts mit  demenziell veränderten Menschen sein.