Um eine ganze Tonleiter auf der Violine zu spielen, wird in der 1. Lage nach dem 5. Ton (4. Finger) auf die nächsthöhere Saite zum 1. Finger gewechselt. Alternativ ist auch ein Saitenwechsel nach dem 4. Ton (3. Finger) zur nächsthöheren leeren Saite möglich (leere Saite = die Saite wird ohne gegriffene Töne gestrichen). Da Frau Schmidt in früheren Jahren bereits Geigenunterricht hatte, kann Frau Feierabend davon ausgehen, dass sie den Saitenwechsel schon einmal gelernt und eingeübt hat.
5. Unterrichtsstunde
In der 5. Unterrichtsstunde spielt Frau Schmidt zunächst gewohnheitsmäßig ab der Quinte wieder abwärts. Sie bemerkt ihren Fehler, weil Frau Feierabend die Tonleiter weiter aufwärts spielt. Bei weiteren Anläufen versucht sie, die hohen Töne auf derselben Saite in höheren Lagen zu finden. Ihre amüsierten Kommentare zeigen, dass sie ihre Fehler und Verständnisschwierigkeiten mit Humor nimmt – das ist bei demenziell veränderten Menschen nicht selbstverständlich und nur dann möglich, wenn die Beziehung zum Gegenüber so vertrauensvoll ist, dass eigene Schwächen eingestanden werden können.
Frau Feierabend erklärt den Saitenwechsel mit Worten und Tönen, die Schülerin schaut ihr zu und summt leise. Beim gemeinsamen Spiel schaut Frau Schmidt dann wieder mit gespitzten Lippen konzentriert auf ihre Finger und überlegt lange, was zu tun ist. Ihr Kommentar „Jetzt bin ich aber schon am Ende.“ ist doppelsinnig: Er betrifft konkret die Finger, die nicht ausreichen, um auf derselben Saite höher zu spielen. Da die Wortwahl aber an die Redewendung „Ich bin mit meinem Latein am Ende“ erinnert, könnte sie damit auch ihr Gefühl meinen, in ihren geistigen Fähigkeiten begrenzt zu sein. Als die Lehrerin dann erneut den notwendigen Bewegungsablauf erklärt, kann Frau Schmidt den Saitenwechsel korrekt durchführen und vom richtigen Ton aus weiterspielen. Die Tonleiter abwärts gelingt dann sogar ohne Schwierigkeiten beim Saitenwechsel, der von ihren Fingern quasi automatisch ausgeführt wird.
6. Unterrichtsstunde
Dieses Umdenken auf die nächsthöhere Saite gelingt in der 6. Stunde mit weniger verbalen Erklärungen. Frau Schmidt braucht eine Weile, aber sie scheint eine Klangvorstellung zu haben, plant den Saitenwechsel und kann ihn umsetzen.
Der Unterricht findet in dieser Stunde auf Wunsch von Frau Schmidt in der Wohnung von Anke Feierabend statt, und obwohl sich demenziell veränderte Menschen in der häuslichen Umgebung typischerweise wohler und sicherer fühlen, scheint sich der Ortswechsel für die Unterrichtssituation hier eher positiv auszuwirken.
Auf der D-Saite sucht Frau Schmidt zunächst die Anfangstöne der Tonleiter durch Ausprobieren und kann dann die verbale Erklärung der Lehrerin in die richtige Bewegung ihrer Finger umsetzen. Ihr Blick ist zunächst unbestimmt, weil sie sich ganz auf ihr Gehör konzentriert. Als sie dann im Hörabgleich mit Frau Feierabends Ton realisiert, dass sie falsch gespielt hat, schaut sie auf ihre Finger und bereitet konzentriert den Saitenwechsel vor, der ihr dann auch gelingt.
7. Unterrichtsstunde
Bei demenziell veränderten Schülern kann eine Lehrkraft sich nicht darauf verlassen, dass sie auf Lernergebnisse aus früheren Stunden aufbauen kann. Frau Schmidt scheint auch in der 7. Unterrichtsstunde wieder den Saitenwechsel wie zum ersten Mal zu spielen. Dieses Mal versucht sie jedoch, ihre Klangvorstellung von einer ganzen Tonleiter zu realisieren, indem sie auf dem Griffbrett in einer höheren Lage die Töne sucht. Frau Feierabend korrigiert sie nicht, sondern spielt die Tonleiter mit Saitenwechsel, um Sicherheit und Orientierung zu bieten, allerdings immer leiser, damit die Intonationsunterschiede nicht schmerzhaft laut werden. Frau Schmidt strengt sich sichtlich an, ihre Klangvorstellung mit sauberer Intonation zu verwirklichen, bricht ab und schmunzelt. Ein vertrauensvoller, amüsierter Blick zu Frau Feierabend zeigt, dass sie sich wohlfühlt und sich ihre Fehler verzeiht. Frau Feierabend lobt sie für ihre besondere Leistung.
8. Unterrichtsstunde
Auch in der 8. Stunde – dieses Mal wieder in der Wohnung von Frau Schmidt – vergisst Frau Schmidt zeitweise die Aufgabe. Nachdem sie die Tonleiter auf der D-Saite bis zur Oktave korrekt auf- und abwärts gespielt und sich selbst bescheiden dafür gelobt hat, spielt sie auf der A-Saite zunächst wieder ab der Quinte abwärts. Sie realisiert ihren Fehler nun schneller, schmunzelt darüber und nimmt die zusätzliche Herausforderung mit großem Ehrgeiz an. Bei dem erneuten Versuch wirkt sie sehr konzentriert, und der Saitenwechsel gelingt auf Anhieb korrekt.
Zusammenfassung
Frau Schmidt kennt die Bewegung, die für den Saitenwechsel innerhalb der Tonleiter im Oktavraum notwendig ist. Ihr Körper hat sie in früheren Jahren eingeübt und kann sie auch jetzt noch reproduzieren. Sie wird aber immer wieder abgelenkt durch die Klangvorstellung von der Übung der Tonleiter bis zur Quinte und wieder abwärts. Diese Übung ist innerlich präsenter und außerdem leichter, so dass Frau Schmidts Finger sie immer wieder automatisch spielen wollen. Anke Feierabend sucht mit viel Geduld nach Wegen, ihrer Schülerin die Übung zu vermitteln. Von Stunde zu Stunde gelingt dies schneller, aber hin und wieder gelingt es Frau Schmidt auch in späteren Unterrichtsstunden nicht, die Anweisung kognitiv zu verstehen und umzusetzen. Es fordert von ihr höchste Konzentration, den gewünschten Handlungsablauf zu planen und zu realisieren.
Frau Feierabend bietet bislang drei Arten der Unterweisung an: verbale, visuelle und klingende. Verbale Anweisungen werden von demenziell veränderten Menschen oft nicht umgesetzt, weil der kognitive Vorgang des Verstehens von Worten nicht mehr oder nur sehr verzögert möglich ist. Frau Feierabend hält ihr Griffbrett vor Frau Schmidts Sichtfeld und bietet ihr damit die Gelegenheit, die Fingerpositionen zu sehen und nachzuahmen. Außerdem spielt Frau Feierabend den 6. Ton der Tonleiter so lange (= klingende Anweisung), bis Frau Schmidt den Saitenwechsel vollzogen hat. Sobald Frau Schmidt sicher und kräftig spielt, nimmt Frau Feierabend ihre Lautstärke zurück und unterstützt nur leise. Sie hört ganz auf, wenn in hohen Lagen die Dissonanz von zwei Violinen zu stark wäre.
Im späteren Verlauf des Unterrichts wird Anke Feierabend auch eine vierte Art der Vermittlung anwenden, nämlich die körperlich bewegende. Alle vier Methoden werden am Beispiel des Liedes Ein Männlein steht im Walde gesondert demonstriert und beschrieben.